Zweite Reformation?

Über den Zustand der katholischen Kirche

April 2019

Am vergangenen Heiligabend überraschte mich (und nicht nur mich) der Pfarrer einer großen Münsteraner Innenstadtkirche mit einer höchst selbstkritischen Predigt. Es ging natürlich um die akuten Missbrauchsvorwürfe gegen katholische Geistliche und die Vertuschungsvorwürfe gegen ihre Vorgesetzten. Schließlich sagte der Pfarrer, ich zitiere ihn wörtlich: Er schäme sich, zur gleichen Kaste wie diese Leute zu gehören. Nach Ende seiner Predigt gab es einen lautstarken Beifall aller Anwesenden, was, zumal an einem Heiligabend, höchst ungewöhnlich, wenn nicht im Grunde gar verboten ist.

Vor ein paar Tagen nun lese ich, dass der besagte Geistliche sich von seinem Pfarramt vorläufig hat entbinden lassen. Er brauche, wird er zitiert, eine Auszeit. Das ist innerhalb von zwei Jahren in Münster der zweite höchst spektakuläre Fall eines sehr aktiven und zumindest lokal prominenten Geistlichen, der öffentlich auf Distanz zur Amtskirche geht. Anderswo wird es sicher ähnliche Fälle geben.

Ja, es ist was faul in der katholischen Kirche in Deutschland. Durch die nicht abreißende Serie von Vorwürfen entsteht allmählich das Bild einer Institution, in der vollkommen ungeeignetes Personal traditionell verankerte Machtpositionen missbraucht und dabei von oben gedeckt wird. Um den schönen Schein zu wahren, und mehr noch: weil besseres Personal einfach nicht zur Verfügung steht.

Aber das ist noch nicht die ganze Wahrheit!

Nun darf mich bitte niemand missverstehen: Ich will die Taten, um die es geht, und das Leid der Opfer um kein Jota schmälern. Die Täter gehören zur Verantwortung gezogen, die Opfer, soweit das möglich ist, entschädigt. Ich glaube allerdings, dass es bei dem Missbrauchskandal in der katholischen Kirche um mehr als eine Summe individueller Verfehlungen und ihre verschleppte Aufdeckung geht. Ich glaube vielmehr, dass wir momentan einen Angriff des ganz und gar weltlichen Zeitgeistes auf den institutionalisierten Glauben an ein höheres Wesen erleben.

Oder, mit anderen Worten: Hier in Deutschland, wo vor 500 Jahren mit der Reformation die größte innere Umwandlung des christlichen Glaubens begann, beginnt jetzt so etwas wie eine neue Generalsattacke auf die Amtskirche. Der gewaltige Unterschied besteht allerdings darin, dass es diesmal nicht um eine Reform des Glaubensinhaltes und der Glaubenspraxis geht, sondern darum, Religion als Institution komplett in Frage zu stellen.

So betrachtet, wären die Missbrauchsvorwürfe der lange und kräftige Hebelarm, mit dem der weltliche Zeitgeist die Kirche im Ganzen als Hüterin und Organisatorin des christlichen Glaubens aus den Angeln zu heben versucht. Denn wenn Kirchenfunktionäre derart eklatant gegen das fundamentale Glaubensgebot der Nächstenliebe verstoßen, dann schlagen sie Breschen in die Grundmauern der Amtskirche. Und durch diese Breschen könnten die Gegner einer institutionalisierten Religion das Gebäude stürmen!

Sehen wir uns um: Kein Mensch will sich heute mehr in seine Überzeugungen und in seine Lebenspraxis von einer Institution hineinreden lassen. Sexualität, politische Orientierung, Alltagskultur, soziale Beziehungen, und eben auch die Haltung zu höheren Wesen und Mächten – das alles hat sich in den letzten Jahrzehnten radikal individualisiert. Die Vereine erleben diese Auflösung von vormals selbstverständlichen Gemeinsamkeiten, das politische System kämpft damit, und jetzt könnte es vielleicht dazu kommen, dass zumindest hierzulande eine Amtskirche nicht nur ihre religiöse Deutungshoheit, sondern auch ihre organisatorische Einheit und Stärke verliert. Massenhafte Kirchenaustritte könnten die ökonomische Basis der Kirche entscheidend schwächen, eine flächendeckende Rebellion gegen ihre Funktionäre könnte sie handlungsunfähig machen, ausbleibender Nachwuchs sogar ihr Ende bedeuten .
Ich weiß, noch klingt das nach Science-Fiction. Zwei Jahrhunderte lang schien es, als würde die Kirche in Europa die Aufklärung und die weitgehende Verweltlichung der Gesellschaft überleben. Aber schauen wir in die Geschichte: Wie vieles, was es einmal gab, ist auch wieder vergangen! Auch vor der katholischen Kirche wird die Geschichte in Mitteleuropa nicht Halt machen.