Sieben Wochen ohne Lüge

Die Fastenaktion der protestantischen Kirche
März 2019

Sieben Wochen ohne Lüge! Zuerst habe ich gedacht: Das geht doch nicht. Und fast hätte ich gesagt: Das darf man nicht. Und das darf man von niemandem verlangen. Die einschlägigen Experimente sind doch schon X mal durchexerziert worden, immer mit dem gleichen Ergebnis: Wer nur die Wahrheit sagt, verprellt, beleidigt und verrät seine Mitmenschen. Am Ende kündigt er die gesamte Gemeinschaft auf.

Man muss das akzeptieren: Miteinander zu leben, das beinhaltet dauernde Kompromisse, dauerndes Nachgeben, dauerndes Handeln gegen die eigenen Wünsche. Und im Sinne aller ist es vielfach besser, den Kompromiss, das Nachgeben oder die Niederlage als Einverständnis zu tarnen. Das ist schlichtweg ein humaner Akt, ohne den unsere Gesellschaft nicht funktioniert würde.

Ich denke, die protestantische Kirche weißt das. Ihre diesjährige Fastenaktion soll sicher nicht darauf zielen, dass Familien, Freundschaften, Vereine, Büros und Nachbarschaften in Serie explodieren, weil alle sich die Wahrheit gegenseitig ins Gesicht sagen. Die Fastenaktion soll sicher nicht zur Folge haben, dass lauter Wahrheitsapostel eine Schneise von Aggression, Verbitterung und Beleidigtsein in ihre Lebenswelt schlagen. Das wäre ja nun auch alles andere als christlich.

Ich vermute daher, die Kirche hat sich diese Aktion ausgedacht, damit wir alle einmal sieben Wochen lang darüber nachdenken, wo und wann wir bei unserer täglichen Praxis des Not- und Gefälligkeitslügens womöglich in den Bereich eines anderen Lügens driften, in dem wir eigentlich nichts zu suchen haben. Ich kann mir vorstellen, wie das passiert: Wir leben in einer Gesellschaft, in der viel negative Reibung entsteht, die durch das Notlügen reduziert werden muss. Da ist es wohl kein Wunder, wenn wir immer wieder versucht sind zu glauben, wir dürften auch da lügen, wo es gar nicht nötig ist.

Womöglich hat die Kirche auch im Sinn, uns daran zu erinnern, dass das Lügen nicht dadurch erlaubt wird, dass niemand es bestraft. Als ich selbst ein Kind war, in der alten analogen Welt, habe ich noch geglaubt, man könne mir das Lügen ansehen, weil ich dabei kurze Beine bekäme und mir eine lange Nase wüchse wie dem kleinen Pinocchio. Heute hingegen wird, da bin ich mir sicher, eine Vielzahl der überflüssigen und schädlichen Lügen in den sozialen Netzwerken produziert, aus den verschiedensten Gründen, vor allem aber deshalb, weil die Lügner sich so sicher sind, nicht ertappt werden zu können.

Genau hier könnte nun höchst sinnvoll gefastet werden! Ich glaube, ich hätte es ganz gut gefunden, wenn die Kirche ihren Fastenaufruf etwas konkreter gefasst hätte. Nicht sieben Wochen ohne Lügen, sondern sieben Wochen ohne Fakenews. Sieben Wochen, und am besten noch länger, ohne manipulative Behauptungen, die man in die Welt setzt, entweder weil man die Macht dazu hat oder weil man sich unsichtbar glauben darf. Sieben Wochen ohne Fakenews auf allen Ebenen, vom Kreml und dem Weißen Haus bis hinunter zum privaten Facebook Account von dir und mir. Überall dort täte es wahrlich gut, wenn einmal kräftig durchgelüftet und der Lügenmief hinaus gelassen würde.

Und übrigens nicht nur für sieben Wochen!