Marode Kanäle

Juni 2018

Es existiert in Münster eine Legende. Man kann ihren Wahrheitsgehalt nicht beweisen, und man kann ihn nicht widerlegen. Nach dieser Legende soll der Rat der Stadt Münster 1945 nach Kriegsende darüber debattiert haben, ob man den weitgehend zerstörten historische Stadtkern, also im wesentlichen den Prinzipalmarkt, aufgeben und das Zentrum eines neuen Münster außerhalb errichten sollte. Der Prinzipalmarkt, bis zum Krieg eines der am besten erhaltenen historischen Ensembles in Deutschland, würde dann als Mahnmal für den Schrecken des Krieges zurückgelassen.

Es habe allerdings, so die Legende, ein überzeugendes Argument dafür gegeben, den Prinzipalmarkt rasch und in enger Anlehnung an den Vorkriegszustand wieder aufzubauen. Die unterirdische Stadt, also die Kanäle und Rohrleitungen, seien nämlich noch weitgehend intakt, man könne also gleich mit dem Wiederaufbau beginnen, während anderswo erst jahrelange Erschließungsarbeiten zu leisten seien. Gesagt, getan; und so verdankt, zumindest nach der Legende, die Stadt Münster ihre größte Attraktion einem System von Rohren, Leitungen und Schächten, in denen es übel riecht.

Nun wissen allerdings die zuständigen Stellen in Münster, dass der unterirdische Retter mittlerweile arg in die Jahre gekommen ist. Prosaisch gesagt: Eigentlich müsste der Prinzipalmarkt, Münsters gute Stube, aufgerissen werden, um die tapferen, aber überalterten Kanäle an moderne Standards anzupassen.

Ich sagte: eigentlich. Denn wer auch immer Münsters Untergrund zu verwalten hat, scheut das Thema. Denn es geht nicht bloß um ein bisschen Buddelei. Etwa zwei Jahre würden die Arbeiten dauern; mit anderen Worten: Zwei Jahre lang würden Bagger und Baumaschinen Münsters beliebtestes Fotomotiv verschandeln. Zwei Jahre lang müssten die Kunden der Geschäfte am Prinzipalmarkt über Bretterstege oder im Slalom shoppen. Zwei Jahre lang müsste für den Verkehr improvisiert werden. Und schlussendlich: Zwei Jahre lang stünde der Prinzipalmarkt für Großveranstaltungen nicht mehr zur Verfügung.

Jedes für sich wäre bitter. Zusammen wäre es eine Katastrophe. Es wäre, als würde man Münsters Herz herausnehmen und in die Inspektion schicken. Der Prinzipalmarkt, früher wirklich ein Markt, dann eine vom Autoverkehr durchrauschte, gehört seit geraumer Zeit vor allem den Bürgern zu Fuß oder zu Rad, die hier passieren, flanieren, shoppen oder zu einem Getränk vor dem Rathaus sitzen. Der Prinzipalmarkt ist eine Touristenattraktion, aber auch eine Art Identitätstankstelle für die Bürger der Stadt. Hier wohnt zwar kaum jemand, aber viele fühlen sich hier zu Hause. Mehrmals im Jahr finden hier große Feste statt, einmal im Jahr wird der Prinzipalmarkt einfach nur gesperrt und in einen einzigen Biergarten verwandelt, in dem der Oberbürgermeister kellnert.

Und das alles zwei Jahre lang aussetzen? Um dann, das vergaß ich noch zu erwähnen, am Ende zu allem Übel auch noch einen Prinzipalmarkt zu bekommen, dessen geliebtes Kopfsteinpflaster irgendwie anders aussehen würde, irgendwie weniger historisch. Kein Wunder also, dass sich niemand an das Projekt herantraut. Es würde die allgemeine Stimmung drücken, alle möglichen Debatten vergiften, am Ende eine gewaltige Verdrossenheit aller Bürger hervorrufen und die Kommunalwahlen stärker beeinflussen, als russische Hacker oder englische Analysten es vermöchten.

Was wird also geschehen? Vielleicht wird die Stadtverwaltung einen heldenhaften und selbstlosen Münsteraner finden, der sich für eine under cover Aktion opfert. Für ihn ganz allein würde dann heimlich ein kleines Loch in den Prinzipalmarkt gegraben, durch das er höchst spektakulär in einen Abwasserkanal plumpsen würde. Das wäre nicht angenehm für ihn, gäbe aber der Verwaltung die Legitimation, die längst schon notwendigen Arbeiten endlich durchzuführen. Die Bagger würden anrücken, es würde ganz furchtbar sein. Aber zähneknirschend würden es die Münsteraner ertragen. Was sein muss, muss sein; zwei Jahre gehen auch vorbei. Vielleicht machte man nach Berliner Vorbild aus der Baustelle eine Schaustelle, gewissermaßen eine alternative touristische Attraktion. Und der Held, der ins Loch gefallen ist, bekäme die Erlaubnis, so oft er will zur Türmerin auf den Lambertkirchturm zu steigen und sich das Chaos von oben anzusehen.