Die Fahrradstadt

Juli 2018

Ein schlechter Ruf schadet, ein guter nutzt. Man könnte meinen, das sei so einfach. Ist es aber nicht.

Die Stadt Münster genießt den ausgezeichneten Ruf, eine weit überdurchschnittlich fahrradfreundliche Stadt zu sein; gerne bezeichnet sie sich sogar als Fahrradhauptstadt Deutschlands. Das rührt nicht von ungefähr. Etwa 100.000 Menschen sind täglich in Münster mit dem Rad unterwegs, und es gibt deutlich mehr Fahrräder als Einwohner. Vor Münsters Bahnhof steht das größte Fahrradparkhaus Deutschlands mit einer eigenen Servicestation, es gibt viele Fahrradwege, unechte Einbahnstraßen, in die man mit dem Rad hineinfahren darf und eine ganze Reihe weiterer Rechte und Bevorzugungen für Radler.

Aber Vorsicht! Die Fahrradwelt in Münster ist nicht mehr so heil, wie sie einmal war. Im Jahr 2003 gaben die Fahrradfahrer der Stadt noch die Note 1,88, also mehr als gut, 2017 gab es noch ein befriedigend, 3,07. Laut Allgemeinem Deutschen Fahrrad-Club ist dieser Rückgang auf die inzwischen ziemlich gestresste Infrastruktur und auf eine steigende Zahl von schweren Unfällen mit Fahrradfahrern zurückzuführen.

Die Stadt Münster muss sich also etwas einfallen lassen. Und dabei könnte ihr guter Ruf ihr womöglich im Wege stehen. Es gilt nämlich nicht mehr, etwas immer schon Gutes zu verbessern, sondern, sehr vieles ganz neu zu erfinden.

In den letzten Jahrzehnten war die Münstersche Verkehrspolitik für Radfahrer der hochlöbliche Schutz einer empfindlichen Minderheit. Aber mittlerweile sieht die Sache ganz anders aus. Es geht darum, den Verkehr in der Innenstadt grundlegend umzubauen. Es gibt einfach zu viele Autos, sie produzieren zu viel Lärm, und das Schlimmste: Die meisten von ihnen produzieren so viel Dreck, dass ihnen demnächst die Gerichte die Zufahrt zu den Städten verbieten werden. Und dann regelt von einem Tag auf den anderen nicht mehr die Stadtverwaltung den Verkehr, sondern die Justiz.

Und hier kommen natürlich die Radfahrer ins Spiel. Aber nicht wie bislang als eine schützenswerte Spezies, sondern als äußerst wichtiger Träger einer zukünftigen Verkehrswende. Es geht nicht mehr wie bisher darum, den Fahrradfahrern das Miteinander mit dem Autoverkehr so angenehm wie möglich zu machen; es geht vielmehr darum, das Radfahren zu einer Alternative zu machen, die man demnächst womöglich gar nicht mehr so freiwillig wählen kann, sondern zu der man gezwungen wird.

Das aber erfordert radikale Maßnahmen, die weit über das „Fahrradfreundliche“, das man in Münster seit Jahren kennt und praktiziert, hinausgehen müssen. Tatsächlich präsentieren die Politik und die Verbände seit Wochen in Münster verkehrstechnische Vorschläge, die eine ganz neue Qualität und Radikalität besitzen. Zum Beispiel die Umwidmung von Parkstreifen in Fahrradstraßen oder weit reichende Vorfahrtsregelungen, die Fahrradfahrer vor dem Autoverkehr kategorisch bevorzugen. Andererseits geht es darum, endlich einzusehen, dass das Fahrradfahren an und für sich noch nicht heilig ist und dass gegebenenfalls auch Fußgänger vor Radlern geschützt werden müssen.

Will Münster also seinen guten Ruf als Fahrradhauptstadt bewahren, wird es ihn demnächst aufs Spiel setzen müssen. Denn Hauptstadt kann man nur bleiben, wenn man es auf sich nimmt, ein Ort für ungewöhnliche und womöglich scheiternde Erneuerungen und Experimente zu sein. Das Fahrradfreundliche gehört heute schon der Vergangenheit an; demnächst wird es um das Menschenfreundliche, ja das dem Menschen Zumutbare des städtischen Verkehrs gehen. Es wäre schön, wenn sich Münster damit einen ganz neuen guten Ruf erwerben würde. Auch wenn es auf dem Weg dahin wahrscheinlich manchen Plattfuß geben wird.