Corona-Brief Nr. 23
Anne Will. Coronajournalismus als Tribunal (27.10.2020)
Normalerweise tue ich das nicht. Besser sollte ich sagen: Ich meide diese sonntägliche Diskussionsrunde (oder Talkshow?) wie die Pest. Ich bewundere die Leute, verstehe sie aber nicht, die sich nach dem heimeligen Kriminal-Kasperletheater des „Tatorts“ übergangslos zu Deutschlands Königin der bohrenden Nachfragen begeben. Ich persönlich verkrafte ihn nicht, diesen Geschwindschritt vom immergleichen Spiel der immergleichen Bösen und Guten zum politischen Streitgespräch real existierender Führungskräfte. Vielleicht liegt es daran, dass ich die heimlich/unheimliche Ähnlichkeit der beiden Formate nicht erkennen kann – oder will.
Und damit bin ich bei meinem eigentlichen Thema: bei der Moderatorin selbst. Am letzten Sonntag hatte sie zur Diskussion über die sprunghaft ansteigenden Corona-Fallzahlen gebeten. Was ihre Gäste zu sagen hatten, war so vorhersehbar wie Sonnenauf- und -untergang. Die Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Berlin waren sich über Parteigrenzen hinweg vollkommen einig darin, dass sie einen zweiten Lockdown vermeiden wollen, das aber womöglich gar nicht können, weil nicht sie zu entscheiden haben, sondern das Virus. Eine Fachfrau aus dem Gebiet der Medizin gab zu bedenken, dass die gesamte Menschheit sich momentan einer Bedrohung gegenüber sehe, von der sie immer noch zu wenig wisse und zu deren Bekämpfung sie Zeit brauche. Ein sehr alter FDP-Politiker meldete eine größere Beteiligung demokratischer Instanzen an, wobei ihm die demokratisch gewählten Länderchefs nicht widersprachen, was auch niemanden überraschen konnte. Eine kleine Überraschung war allenfalls, dass ein Philosoph und beamteter Querdenker als einzigen Joker den Vorschlag einer digitalen Totalüberwachung der Bevölkerung aus dem Ärmel zog, wofür er sanften Widerstand derjenigen erhielt, die das Kunststück fertig bringen sollen, totale Überwachung und totalen Datenschutz gleichzeitig zu leisten. Schließlich war da noch die Chefin eines Gesundheitsamts, die beklagte, was auch nicht überraschen konnte, nämlich die Überlastung ihrer Behörde.
So war ich nach einer Stunde nicht klüger als zuvor, allenfalls war mein Mitleid mit den Politikern noch gewachsen, muss doch deren Job momentan die Hölle sein, eine Spezialhölle für gewählte Entscheidungsträger, in der sie zwischen den einander weitestgehend widersprechenden Forderungen ihrer Wähler zerrieben werden. Und ein bisschen sauer war ich vielleicht noch auf den Philosophen, von dem ich mir etwas anderes erwartet hätte als die Forderung nach einem Chip, wie ihn meine Hunde unter der Haut tragen.
Dennoch konnte ich nicht ohne eine gewisse innere Erregung abschalten. Denn da war ja noch sie selbst, Anne Will. Angesichts der Bedrohung durch eine Pandemie, von der momentan die ganze Welt erfasst wird und die womöglich auch den Schreiber dieser Zeilen (der zu einer Risikogruppe gehört) demnächst auslöschen wird, hielt Frau Will geradezu eisern an der Folklore ihres Genres fest, die darin besteht, den „Mächtigen“ sogenannte „unbequeme Fragen“ zu stellen und sie möglichst dort zu ertappen, wo sie etwas versäumt, verbockt, missverstanden oder ignoriert haben. Frau Will tat das wie immer mit einer Stimme und Körperhaltung, die mir gut zur Direktorin eines Elitegymnasiums zu passen scheinen, wenn sie sich die einflussreichen Eltern unbotmäßiger Zöglinge vorknöpft. Es ist dies die Haltung einer habituellen Arroganz gegenüber Mächtigen, deren Macht man im Grunde als illegitim betrachtet, ohne das laut sagen zu dürfen.
Ich persönlich fürchte, dass diese Haltung moralischer Überlegenheit im öffentlichen Diskurs, mag sie auch durch Gretas „How dare you!“ zum Standard quasi-heiligen Besserwissens geworden sein, ganz besonders schlecht zur Auseinandersetzung mit der Pandemie passt. Wir sind gerade weltweit mit einem Phänomen konfrontiert, das dabei ist, die gesamte Menschheit zu überfordern. Corona überfordert das Immunsystem des Einzelnen, es überfordert unsere gesellschaftlichen Strukturen, es überfordert den Verwaltungsapparat und die politischen Instanzen. Auf die Gefahr hin, inkorrekt zu formulieren, nenne ich Corona einen Feind, der der Menschheit eine Niederlage nach der anderen zufügt. Nicht auszudenken, was er anrichten würde, wenn er auf eine weniger entwickelte medizinische Abwehr treffen würde. Womöglich würde er die (leider ganz und gar vergessene) Spanische Grippe in seiner Wirkung noch weit übertreffen.
Doch Frau Will bleibt auch angesichts dieser Bedrohung bei ihrer approbierten Haltung des Bürgers als „kritischer Konsument“, der „der Politik“ (wie man heute sagt) nur mit hochgezogenen Augenbrauen begegnet. „Konnte man nicht vorhersehen?“, fragt sie, „Musste man nicht vermeiden?“, „Hätte man nicht dafür sorgen müssen?“ Denn der Bürger als kritischer Konsument, hat er nicht ein verbrieftes Recht auf den kompletten Schutz vor allem Möglichen, inklusive dem Unvorhersehbaren?
Ich bitte, mich nicht falsch zu verstehen. Ich will Corona nicht zur Sintflut stilisieren, von einem Gott geschickt, um die Menschheit für ein update herunterzufahren. Aber es sollte meines Erachtens heute im Wesentlichen das Ziel des öffentlichen Diskurses sein, ein möglichst hohes Maß an Solidarität aller Menschen zu befördern. Mit der allumfassenden „Stiftung Warentest-Mentalität“, mit dem ewigen Suche nach Schuldigen (China, Tönnies, die Partyszene in Friedrichshain und natürlich „die Politik“) tun wir uns keinen Gefallen, und jeder scheinbare Gewinn an moralischer Überlegenheit wird zu einem beklagenswerten Verlust an Solidarität führen.
Es stimmt, wir werden womöglich allesamt wieder in die Bunker unserer Wohnungen gesperrt, während vergleichsweise wenige in den Chemielaboren dieser Welt nach einer Waffe gegen den Feind Corona suchen. Womöglich ist das unnötig, womöglich ist Corona tatsächlich „nur“ eine schwere Grippe. Aber wer bitte will ein „Laissez faire“ Experiment anordnen, das womöglich das Gesundheitssystem kollabieren lässt und Abertausende Menschen das Leben kostet? Wer mit demokratischem Auftrag kann anders handeln als nach dem Prinzip „Safety first“?
Aber ich weiß natürlich, ich werde Anne Will nicht bekehren. Sie wird weiterhin das Haar in der Suppe suchen, und ein leicht arrogantes Lächeln wird um ihre Lippen spielen, wenn sie „die Politik“ dazu bringt, sich zu widersprechen, zu stottern oder schwache Phrasen abzusondern. Ich halte das nicht für hilfreich. Im Gegenteil.