Corona-Brief Nr. 24

Lockdown. Selbstzweifel eines Künstlers unter Corona  (3.11.2020)

Ich brauche nicht lange, um meine Situation „unter Corona“ zu beschreiben. Von außen betrachtet hat sich nicht allzu viel für mich verändert, die üblichen Tagesabläufe sind weitgehend gleich geblieben. Aufstehen, Frühstück, Hundespaziergang, PC einschalten, den Text laden, an dem ich gerade arbeite, lesen, was ich zuletzt geschrieben habe, Korrekturen anbringen und dann sehen, ob ich weiß, wie es weitergeht und ob ich das formulieren kann. Praktisch alles wie immer.

Nur sind alle Veranstaltungen gestrichen, was insbesondere heißt: Mit meinem im August erschienenen dritten Kinderbuch „Fipp, Vanessa und die Koofmichs“ bin ich bislang zu keiner einzigen Lesung eingeladen, Kein Wunder, denn Lesungen sind entweder verboten, oder meine Gastgeber, Schulen zum Beispiel, haben genug damit zu tun, ihren normalen Betrieb zu organisieren.

So sieht es aus. Gelegentlich fragen mich Leute, ob ich froh darüber bin, nicht von Veranstaltern und Publikum behelligt zu werden. Statt in der Weltgeschichte herumfahren zu müssen, hätte ich doch jetzt alle Zeit der Welt für meine Texte. Ich gebe dann möglichst freundlich formulierte Antworten. Nein, sage ich wahrheitsgemäß, ich schätze den Kontakt mit dem Publikum, ich schätze es, ja, ich brauche es geradezu, dass meine Texte vor Zuhörern laut werden; nur so werden sie mir wirklich vertraut, nur so lerne ich selbst aus ihnen. Überdies schätze ich die Gespräche mit meinem Publikum, ganz besonders die mit jungen Zuhörerinnen und Zuhörer, auch wenn sich viele ihrer Fragen wiederholen. Über meine Lesungen in Schulen habe ich ein kleines Buch geschrieben, in dem ich erläutere, warum ich es für so wichtig halte, dass Texte im Unterricht laut werden. (Auswärtslesen. Mit Literatur in die Schule. Residenz Verlag 2010).

Ach ja, und dann vermisse ich zusammen mit meinen Lesungen auch die Honorare dafür. Das versuche ich allerdings zu verschweigen. Wer will schon gerne bedürftig klingen.

Und dann ist da noch etwas anderes. Es geht, wie soll ich es beschreiben, um die Haltung, die ich meiner eigenen Tätigkeit als Künstler gegenüber einnehme. Oder sollte ich vielleicht besser sagen: Es geht um das Gefühl, mit dem ich tue, was ich tue.

Ich denke, jeder irgendwie tätige Mensch hat so ein Gefühl. Es ist zusammengesetzt aus Neigung, Liebe, Erfahrung und allerlei Überzeugungen. Man findet, was man tut, mehr oder weniger richtig, man findet sich selbst am mehr oder weniger richtigen Ort, bei der mehr oder weniger richtigen Sache. Ich selbst fand mich immer am richtigen Ort und bei der richtigen Sache. Kunst, in meinem Fall in der Gestalt literarischer Texte, gehört für mich zu den richtigen Sachen. Mit einem Wort meines akademischen Lehrers habe ich Literatur stets für einen „notwendigen Luxus“ gehalten, für ein wichtiges, ja, unverzichtbares Medium, in dem sich die Diskussion über entscheidende Fragen des Menschseins vollzieht.

Dieses Weltbild ist in mir seit dem Beginn meines Studiums vor 44 Jahren stabil geblieben. – Aber jetzt hackt Corona  darauf herum. Nun ist es nicht so, dass ich mit dem ersten Lockdown das Schreiben von Literatur und ihr öffentliches Lautwerden urplötzlich als überflüssiges Beiwerk, als Schnickschnack und nicht „systemrelevant“ gesehen hätte. Das nun wirklich nicht! Aber seit nunmehr acht Monaten muss ich mitansehen, wie angesichts der Bedrohung durch die Pandemie, und also mit guten Gründen, vieles heruntergefahren, abgesagt und ausgesetzt wird. Und so oft trifft es das, wofür ich stehe.

Ich wiederhole es: Ich verstehe die Maßnahmen, ich unterstütze sie. Aber sie werden allmählich immer schmerzhafter. Es ist wie eine beständige Abfolge leichter Schläge auf immer dieselbe Stelle am Körper. Eine Zeit lang hat sie gar keine Folgen, dann gibt es einen hellroten Fleck, der gleich wieder verschwinden würde, sollten die Schläge aufhören; aber sie hören nicht auf, und deshalb gibt es einen dunkelroten und endlich einen blauen Fleck. Und wenn die Schläge dann immer noch nicht aufhören, wird am Ende Blut fließen.

Es ist für jeden Menschen höchst belastend, bei seiner Arbeit durch die Verhältnisse überfordert zu werden. So läuft zum Beispiel das Personal in Krankenhäusern und Pflegeheimen Gefahr, unter den durch Corona immer größer werdenden Aufgaben zusammenzubrechen. Belastend aber ist es auch, wenn sich wie zäher Bodennebel im eigenen Leben die Empfindung ausbreitet, man werde nicht mehr gebraucht, jedenfalls nicht mit dem, woran man ein ganzes Leben gesetzt hat.

In der Ikonographie unseres Nachrichtenalltags stehen jetzt verständlicherweise die Bilder von Intensivstationen in Krankenhäusern an oberster Stelle. Es sind Bilder, in denen für die Schönheit sprachlicher Gebilde kein Platz ist. Da sind Geräte und Schläuche und Instrumente und natürlich Menschen, die tun, was getan werden muss, um Leben zu erhalten. Es geht auf diesen Bildern um sein oder nicht sein, es geht um die notwendige Voraussetzung für alles andere: für Wohlempfinden, Glück, Liebe und Kunst. Wo sieht man sich als Maler, als Musiker oder als Schriftsteller in diesen Bildern stehen? Allenfalls am Rande, und eigentlich gar nicht.

Ich weiß, ich sollte nicht klagen. Ich sollte lieber abwarten. Corona geht vorbei, zumindest ist das einigermaßen wahrscheinlich. Danach werden alle mit umso größerer Begeisterung zurückkehren zu dem, was sie vermisst haben. Alle Konzerte und Ausstellungen und Lesungen werden übervoll sein mit Menschen, die, als es ihnen fehlte, endlich so richtig begriffen haben, was sie lieben und brauchen. Es wird eine Renaissance der Künste geben, die Menschen werden auf den Straßen tanzen, als wäre ein Krieg beendet worden. Hoffentlich. jedenfalls sollte ich darauf warten. Und das tue ich natürlich auch.

Leider ist das Warten eine vertrackte Untätigkeit. Wer wartet, bekommt unversehens Besuch von Gespenstern. Die meinen raunen, so manches werde nach Corona nicht mehr sein, was es bislang war. Ich selbst womöglich inbegriffen. Was soll ich Ihnen antworten?

Nun, ich schalte dann den PC an, rufe diesen Text auf, an dem ich gestern gearbeitet habe, lese ihn durch, mache Korrekturen und schaue, ob ich weiß, wie es weitergeht. Und ob ich das formulieren kann.