Corona-Brief Nr. 22

Pandemiegewinner 4: XY (bekannter Musiker)

„Muss ich mich vorstellen? Nein, oder? Sie kennen mich ja. Und wenn Sie mich nicht kennen, dann kennen mich ihre Kinder. Meine Band und ich, wir sind die, bei denen die Eltern von Teenagern immer überlegen, ob sie ihren Kindern nicht verbieten sollen, zu unseren Konzerten zu gehen – und lieber selbst hingehen. (lacht)

Ja, sorry. Das ist so ein Werbespruch. Den sag ich gerne, wenn ich interviewt werde, von wegen, für wen wir denn spielen, wer unser Publikum ist und so. Klingt ein bisschen großspurig, ich weiß. Aber die meisten Bands versuchen doch heute, praktisch alle Leute zu erreichen. Und so richtig alte Leute, wie früher, gibt es ja gar nicht mehr, jedenfalls was Popmusik angeht. Haben Sie schon mal WDR 4 gehört? Da lief früher Volksmusik für die reifere Hitlerjugend. Aber die hört jetzt nicht mehr Radio.

Wie bin ich jetzt darauf gekommen? Ach so, ja. Ich wollte mich ein bisschen vorstellen. Das heißt, ich wollte sagen, dass ich mich eigentlich nicht groß vorstellen muss. Weil Sie wissen, wer ich bin.

Aber darum geht’s mir eigentlich gar nicht. Ich wollte Ihnen was anderes erzählen. Und das ist irgendwie nicht so – easy. Im Gegenteil. Das ist eine Sache, über die ich in letzter Zeit viel grüble. Und wenn ich sage „grübeln“, dann meine ich nicht, in so ’nem großen Ledersessel sitzen, ein Glas teuren Rotwein trinken und sich irgendwelche feinsinnigen Gedanken durchs Hirn spazieren lassen. Ich meine eher das Grübeln, bei dem man nachts im Bett liegt und nicht schlafen kann und so ein Zeug vor sich hin denkt und eigentlich viel lieber schlafen möchte.

Am besten, ich fang mal von vorne an. Corona. Muss ich nicht viel zu sagen. Ist allseits bekannt. Schluss mit Lustig, besonders für unsereins. Neues Album, monatelang dran gearbeitet, immer wieder drüber gesprochen, von wegen „neuer Schritt gemacht, neue musikalische Bereiche erobert“ und so weiter. Dann kommt es raus, und kein Schwein interessiert sich dafür. Keine Tournee, keine Konzerte. Nada. Nothing. Abgesehen natürlich von der Huphup-Blinkblink-Geschichte in diesem Autokino, nach der ich abends einen dermaßenen Depressionsschub bekommen habe, dass ich drei Hotelzimmer hätte zerlegen können. Zum Glück waren wir gar nicht im Hotel, weil das Autokino bei uns um die Ecke ist. Und dass ich meine eigene Bude zerlege, da muss es schon noch ein bisschen schlimmer kommen.

Hup hup! Blink blink! (Lacht bitter) Das war so, als hätte man einem Kind versprochen: „Wir gehen in den Zoo.“ Und dann sagt man zu ihm: „Sorry, Zoo ist leider nicht. Aber ich hab hier ein schönes Buch. Tiere in heimischer Flur. Vierzig Schwarzweißfotos. Das blättern wir jetzt mal in Ruhe durch. Wirst sehen, das ist genauso schön wie Zoo.“ Ist es aber nicht! Trotzdem hab ich mich natürlich zwölf Dutzend Mal vor irgendwelche Mikrofone gestellt und mich bei meinen treuen Fans bedankt, die mich in schweren Zeiten so toll unterstützt haben.

Hup hup. Blink blink. – Holy shit! Verarschen kann ich mich selbst. Sagt man immer so. Aber das Konzert im Autokino war endlich mal ein richtiger Beweis dafür, dass man das wirklich kann: sich selbst verarschen, während 200 Leute in ihren Blechkisten einem dabei zugucken. Hup hup, blink blink. O Mann, war ich schlecht drauf.

In den Tagen danach ist dann dieses Grübeln bei mir ausgebrochen. Und irgendwann hatte ich das Gefühl, ich steh am Rand von einem Loch, bei dem ich nicht bis auf den Boden sehen kann. Ich steh ganz nah am Rand, und wenn ich nicht höllisch aufpasse, falle ich da rein. Und ich sage mir: „Junge, geh doch ein Stück zurück. Halt doch ein bisschen Abstand.“ Aber ich kann nicht, im Gegenteil, ich muss immer näher ran an dieses Loch, so nah, wie es nur eben geht.

Fragen Sie sich jetzt, was das für ein Loch ist? Wenn ja, dann erkläre ich es Ihnen. Und wenn nein, dann erkläre ich es Ihnen auch. Das Loch ist nämlich eine Frage. Naja, ich weiß, das ist ein bisschen schief. Vielleicht sage ich besser: In dem Loch lauert eine Frage mich. Und die Frage lautet, diese beschissene Frage lautet: „Muss man eigentlich Musik vor Leuten machen?“

Gut, ich meine, natürlich muss man Musik vor Leuten machen. Man nennt das Konzert, und von solchen Konzerten leben wir Musiker. Früher konnte man mal von Platten oder CDs leben, aber das war vor meiner Zeit. Das gibt’s nicht mehr, jetzt leben wir von Konzerten. Nun ist das allerdings nicht so, dass wir sagen: „Ja, die blöden Konzerte. Die sind ja sooo anstrengend. Puh. Müssen wie leiderleider machen, um Geld zu verdienen. Also machen wir das.“

Nein! Das sagen wir natürlich nicht. Das würden wir nicht mal auf der Folter sagen. Wir sagen stattdessen: „Ja, das Schönste an der Musik, das ist, wenn wir vor soundso vielen Menschen performen und wenn wir diese Welle der Begeisterung spüren, von der wir getragen werden.“ Das ist, was wir sagen, in ich weiß nicht wie vielen Variationen, die immer auf dasselbe hinauslaufen: Musik ist Performen. Jawohl. Und eigentlich leben wir nicht von Geld oder von Brot und Wasser, sondern vom Kreischen der Leute und von den geschwenkten Smartphones mit Taschenlampe an.

Denken Sie nicht, ich würde jetzt sagen: Das ist gelogen. Sätze, die man so oft sagt und die immer wieder funktionieren, die können nicht so richtig gelogen sein. Wenn alle Leute sich auf irgendwas einigen, dann hat das seine Richtigkeit. Wie bei den Gesetzen. Auf die hat man sich geeinigt, und dann gelten sie. Hundert Jahre später sagen die Leute vielleicht: „Die hatten wohl einen an der Waffel, solche Gesetze zu beschließen.“ Und dann machen sie andere, und dann gelten wieder die. Genauso ist das bei uns auch. Alle machen bei diesem Performen-Hype mit, zufällig lebt auch noch die ganze Branche davon, also muss das auch richtig so sein. Basta.

Aber jetzt das Loch! Mein Corona-Loch. Das Loch mit der Frage darin, die da lautet: „Stimmt das wirklich?“ Und wenn ich ehrlich sein soll: Ich steh eigentlich nicht mehr am Rand von dem Loch, ich bin schon reingefallen. Und ich falle und falle und falle und komme nirgendwo an. Und während ich falle, kommt mir dieses ganze Performen immer mehr wie eine Riesenlüge vor. Oder besser: wie so ein Tarnnetz, das man über was drüber wirft, damit man nicht erkennt, was drunter ist.

Ja, was passiert denn eigentlich?, hab ich mich gefragt. Also bei den Konzerten. Das passiert: Wir sitzen ein paar Stunden im Tourbus, wir hören uns an, was der Manager von dieser Halle noch an Problemchen hat, wir spielen uns ein, Soundcheck, dann tun wir so, als würden wir uns mental auf unseren Auftritt vorbereiten. Mittlerweile kommen die Leute, die lassen wir so lange warten, wie es gerade eben noch geht, dann gehen wir auf die Bühne, und dann tun wir so, als wäre es total cool, heute Abend ein bisschen für die Leute zu spielen. Als wäre es das, was wir uns immer schon gewünscht haben: eine Nacht im Lockschuppen in Bielefeld, und als wären wir den Bielefeldern regelrecht dankbar dafür, dass sie uns da spielen lassen. Und wenn wir uns nicht zu blöd anstellen, dann klappt das auch, und alle empfinden genau dasselbe, und schließlich gehe ich an den Bühnenrand und fasse jemanden an oder ich hechte ins Publikum und lasse mich auffangen und durch den Saal tragen. Und am Ende spielen wir so viele Zugaben, dass wir selber denken, wir wollen gar nicht mehr von der Bühne runter, weil nur auf der Bühne, da gibt es uns richtig, und hinter der Bühne, da gibt es uns gar nicht, und deshalb wollen wir da gar nicht mehr hin.

Klingt das jetzt so, als würde ich mich darüber lustig machen? Bloß nicht! Sorry! Wenn so ein Konzert gut läuft, dann ist das, na ja – gut. Cool. Möchte echt keiner missen. Und nicht nur wegen des Geldes. Ich verstehe die Kollegen, die sagen, sie gehen wegen Corona auf dem Zahnfleisch, weil sie keinen Kontakt mehr zum Publikum haben und so.

Aber das beantwortet alles noch nicht die Frage aus dem Loch, die Frage, ob Performance wirklich sein muss. Ob es wirklich so ist, dass die Musik erst richtig Musik ist, wenn man sie live vor 1000 Leuten spielt?

Was meinen Sie dazu? Aber kommen Sie mir jetzt bitte nicht mit irgendwelchen Unterscheidungen! Von wegen Kammermusik siebzehntes Jahrhundert vor 30 Leuten im Salon, Stones und Coldplay vor 30.000 im Stadion. Ich weiß, dass es im Leben Unterschiede gibt, aber ich hab ja schon gesagt, ich grüble, und das heißt so viel wie: ich philosophiere. Ich würde das gerne mal grundsätzlich klären. Muss man Musik vor Publikum spielen, weil das, wie soll ich sagen, weil das die höchste Stufe von Musik ist? Oder weil es erst die eigentliche Musik ist?

Ich meine: Jetzt in diesem Moment liegen soundsoviele Millionen Menschen irgendwo in ihren Zimmern oder sitzen im Auto oder fahren U-Bahn und lassen sich dabei von einer Musikkonserve beschallen. In allerbester digitaler Soundqualität über fünf Riesenboxen oder solche fetten Kopfhörer. Und? Fehlt diesen Leuten wirklich was, wenn sie nicht sehen, wie der Frontmann schwitzt oder wie der Keyborder sich ein Bier holt, wenn er ein paar Takte Pause hat? Ist so ein Konzert mit seiner lausigen Akustik, nach dem man einen halben Tag lang taub ist, tatsächlich besser als eine CD in Superqualität? Und wenn ja, warum genau?

Nein, kommen Sie mir jetzt nicht mit Gemeinschaftsgefühl und Erlebnis. Gemeinschaftsgefühl und Erlebnis können Sie auch beim Fußball oder von mir aus in der Kirche haben oder bei Fridays for Future. Mir geht es echt um die Musik. Wenn diese verdammte Corona-Scheiße vorbei ist, dann will ich auf die Bühne gehen und endlich einmal genau wissen, was ich da tue. Ob ich da zum Geldverdienen bin oder zum Egopolieren oder  – oder ob es da noch etwas gibt, das wichtiger ist als Knete und Ego.

Ehrlich, ich will das jetzt wissen. Ohne Corona hätte ich mich das womöglich nie gefragt. Aber keine Bange! Ich geh jetzt nicht hin und sage: „Danke, Corona. Danke für den Denkanstoß.“ Das nun wirklich nicht. Aber es ist nun mal passiert. Und eins weiß ich: Ich werd diese Frage nicht mehr los. Und ich will eine Antwort darauf. Sonst bin ich raus.“