Aktien drin
Klassenpflegschaftssitzung in der 8b. Es geht um die Entscheidung über eine Verlegung der Pause. Den Eltern ist die Sache mehr oder weniger egal. Man bittet den Lehrer um seine Meinung. Er antwortet: Da hab ich keine Aktien drin. Was der Mann damit sagen will, ist klar: Er verfolgt hier keine eigenen Interessen. Und niemand unter den Eltern versteht auch etwas anderes, niemand merkt bei dieser Redewendung besonders auf.
Dabei hätte der Lehrer Dutzende von Möglichkeiten, sein Bekenntnis der Absichtslosigkeit in andere Worte zu fassen. Zum Beispiel: Das ist mir egal. Doch wahrscheinlich ohne großes Nachdenken hat er sich für die Aktien-Redewendung entschieden. Sie schwirrte ihm wohl besonders weit vorne im Kopf herum und bot sich am lautesten an.
Dass die allermeisten Eltern der 8b nicht besonders aufgemerkt haben, kann ich kaum kritisieren. Man kann nicht auf jede Redewendung seines Gegenübers achten, sonst wäre kein Alltagsgespräch mehr möglich. Aber den Sprachkritiker ruft diese Wendung an sein Geschäft; und das ist der Mord! (Schiller: Monolog des Wilhelm Tell)
Beziehungsweise der Aufruf zum Widerstand. Wendungen wie die vom Aktien-drin-Haben sind nämlich Indizien einer mächtigen, wenngleich subtilen Sprachenwende. Menschen, deren Berufsalltag wie der des Lehrers fernab der Börse stattfindet, verwenden heutzutage wie selbstverständlich Redensarten aus der Finanzbranche. Das Denken der modernen Ökonomie erobert die Alltagssprache und über die das Alltagsbewusstsein.
In diesem Fall funktioniert das ganz einfach: Anteilnahme oder Nichtanteilnahme an einem Problem finden sich in der Metapher des Aktienbesitzes ausgedrückt. Das funktioniert aber nur, weil das Wort Aktie bereits als universelle Metapher für Teilnahme verwendet werden kann. Und das heißt: Ein Begriff aus dem engeren Kontext der Wirtschaft hat die Kraft besessen, aus seinem Reservat auszubrechen, ins Alltagssprechen einzudringen und dort weit reichende Funktionen auszuüben.
Denn Wirtschaft gilt viel! Auch bei nicht-Ökonomen wie dem Lehrer. Jargons setzen sich durch, weil die Allgemeinheit gerne so redet wie die, die das Sagen haben. Früher waren es die Vertreter von Religion oder Politik, an deren Sprechen man sich im Alltag orientierte. Selbst in so unscheinbaren Äußerungen wie um Himmels Willen oder mehrheitsfähig finden wir heute noch die alte Verehrung aufbewahrt.
Doch an die Stelle der alten Machthaber über das Alltagsbewusstsein sind mittlerweile neue getreten, und unter ihnen nimmt die Wirtschaft die stärkste Position ein. Wir erfahren das jedes Mal, wenn wir die Nachrichten hören oder eine Zeitung aufschlagen und uns die Wirtschaftsmeldungen als erstes entgegenschlagen (im doppelten Sinne).
Was wir allerdings weniger wahrnehmen, dass ist die Art und Weise, wie das Wirtschaftsdenken über unsere Sprache unser Bewusstsein besetzt. Metaphern wie die vom Aktienbesitz schleichen sich über unsere Zunge in unser Gehirn, setzten sich dort fest und verändern unmerklich unser Denken.
Ob zum Besseren, sollte zumindest von Fall zu Fall geprüft werden.