Selbstversuch mit Pop I.

Bei „Fleetwood Mac“ in Köln (2015)

Donnerstag, 4. Juni 2015. Köln, Lanxess Arena. Noch eine Stunde bis zum Beginn. Und ich bin mächtig nervös. Denn ich habe eine Theorie; und gemäß dieser Theorie dürfte ich gar nicht hier sein! Mehr noch, ich müsste Ereignisse wie dieses hier strikt meiden. Meine Theorie: Etwa zehn Jahre lang ist man als junger Mensch emotional empfänglich für populäre Musik. Ob man will oder nicht. Die Musik ist überall, und sie klammert sich wie ein körperloser Octopus an Sensationen wie erste Küsse oder erste Räusche. Sie bindet Ekstasen und Enttäuschungen; hört man sie Jahre später, dann spürt man auch als Mittfünfziger prompt wieder die Scham und den Triumph einer, sagen wir: ersten Berührung.

Soweit meine Theorie. Ich habe sie übrigens an mir entwickelt. Meine zehn Jahre reichen vom Ende der Beatles bis zur vorerst letzten Platte von Steely Dan, sind also mit den 70er Jahren identisch. An deren Ende war ich vom begeistern Fan zum kritischen Konsumenten geworden. Depeche Mode konnten nichts Wichtiges in mir mehr ansprechen, auch Oasis nicht oder Nirvana. Sie kamen einfach zu spät.

Nun ergibt sich aus meiner Theorie eine dringende Handlungsanweisung: Let it be! Komm nicht in die Nähe von Leuten, die sich einmal mittels E-Gitarre und Gesang deine Gefühle geschnappt und an ihre Stücke gekoppelt haben. Let it be! Bleib bei den Tonträgern, deren unveränderbare Qualität dafür sorgt, dass deine nostalgische Verbindung von Musik und Gefühl nicht durch irgendwelche Verwerfungen gestört wird.

Oder, deutlicher gesagt: Wenn Stevie Nicks, nachdem das Schlagzeug einsetzt, so verzweifelt wie kraftvoll singt: „drowning in a sea of love“, dann soll, nein, muss das genau so klingen wie 1979, als mich meine Freundin C. gerade verlassen hatte. Und wenn dazu ein Bild erscheinen muss, dann bitte nur das dieser jungen Frau, die einem Jugendstilgemälde entstiegen ist, mit aufgetürmten Kräusellocken und „Gypsy“-Roben, sich so grazil ungelenk bewegt wie eine Marionette, während ihre rauchige Stimme die zierliche Person in einen sicheren Kokon hüllt. Nur dies, sonst nichts!

Und also bin ich hier womöglich vollkommen fehl am Platze. Bald 40 Jahre sind vergangen, in denen ich keine Popkonzerte mehr besucht habe. Ich hatte Chicago gesehen, den großartigen J.J. Cale und Genesis bei der legendären „Lamb lies down on Broadway“-Tour. Wunderbare Konzerte! Musik, mit sich und mir und allem identisch! Doch dann hatte ich meine Musik-Erinnerungen auf Tonträgern eingefroren. Sollten die Gitarristen und Sängerinnen altern, meine Gefühle sollten das nicht.

Neben mir sitzt übrigens Michael aus Trier, von Beruf Banker, gekleidet so freizeitgemäß unauffällig wie praktisch alle 14.500 Zuschauer und mit seinen 51 wahrscheinlich nur knapp über ihrem Altersdurchschnitt. Ob er öfter Konzerte wie diese besuche, frage ich ihn, um meine Nervosität zu bekämpfen.

Und das tut er! Tatsächlich entpuppt er sich als das Gegenteil von mir. Während ich die Gralshüter meiner Erinnerung meide, macht er sich seit über 30 Jahren alle paar Wochen auf, um zu prüfen, was noch da ist. Auch ihm geht es ums Authentische; doch offenbar hat er keine Angst vor Enttäuschungen. Tatsächlich informiert er sich vorab, etwa über Youtube, und meistens liegt er richtig mit seiner Wahl.

Ich bewundere ihn rückhaltlos. Er teilt meine Sorge vor dem Untergang der Popmusik in schierer Trivialität ebenso wie die Sorge, durch ein Konzert um die Reinheit der eigenen Erinnerungen gebracht zu werden. Aber er geht die Sache beherzt an. Heute, sagt er, sei er ziemlich sicher, nicht enttäuscht zu werden. Und dann erfahre ich von ihm all das über Fleetwood Mac, was ich nie gewusst oder zu wissen mich vorsichtshalber geweigert hatte. So vergeht die Wartezeit im Flug. Plötzlich geht das Licht aus. Roadys geleiten die Musiker mit Taschenlampen zu ihren Plätzen. Licht an. Musik.

Und jetzt erwarten Sie von mir bitte nicht eine dieser wohlinformierten Konzertkritiken. Die werden andere leisten, souverän und geschwind, die ersten Texte werden am Freitagmorgen online erscheinen. Was drin steht, werde ich lesen, kommentieren werde ich es nicht. Denn auf mich wartet hier nicht der Gegenstand einer Kritik, sondern der ultimative Test meiner Fähigkeit, das Altern meiner großen Erinnerungen zu ertragen. Und damit, sagen wir es doch offen: nicht weniger als mein eigenes Altern.

Und dieser Test fordert alles von mir. Denn einerseits spielen Fleetwood Mac praktisch nur die Klassiker aus meinen Emotionsarchiven, andererseits ist der Umstand, dass hier Leute an und um die 70 auf der Bühne stehen, absolut nicht zu übersehen. Weder wenn Lynsey Buckingham Gitarre spielt, mit einer Kraft und Intensität, als habe er die Songs und das Spiel gerade erst erfunden. Noch wenn Stevie Nicks singt, mit derselben gebrochen ungebrochenen Stimme wie vor 40 Jahren. Oder wenn Mike Fleetwood ein minutenlanges Schlagzeugsolo spielt, das einem viel jüngeren Mann den Atem rauben würde.

Nein, alle Zeichen sind deutlich. Fleetwood Mac gehen auf Welttournee, ohne ein neues Album vorzustellen. Hier verwalten und bewahren Leute jenseits des Pensionsalters ihre Werke aus einer höchst produktiven, doch lange zurückliegenden Zeit. Sie tun das mit Routine, mag auch ein Gutteil dieser Routine daran gewendet sein, nicht routiniert zu wirken. Eine Zeitlang weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich bin hin- und hergerissen. Da spielen die Fünf auf der Klaviatur meiner Erinnerungen; zugleich fürchte ich, einer zu sein, dem man gerade das Warenpaket „Authentizität und Identität“ zusammen mit dem Hot-Ticket zu einem gesalzenen Preis verkauft hat.

Doch dann sehe ich mir die Leute um mich herum an. Gelegentlich erkenne ich ihre Gesichter im kreisenden Scheinwerferlicht. Viele haben mein Alter. Es wird ihnen also ähnlich gehen wie mir. Aber offenbar haben sie meine Skrupel überwunden, oder haben sie nie besessen. Zwar zeigt kaum jemand noch Fan-Allüren, ich sehe keine Begeisterung um der Begeisterung Willen, kein Feuerzeug bei stillen Songs. Aber ich sehe auch: Die Leute sind guten Mutes, nicht kalten Gemüts. Wenn ich sage, dass sie der Band einen warmherzigen Empfang bereiten, ist das ausnahmsweise keine kitschige Phrase. Sie freuen sich offenbar an der Wiederbegegnung, und sie ertragen, dass es zugleich die Begegnung mit Unwiederholbarem ist. Als Buckingham Christine McVie zurück in der Band begrüßt und sagt, damit beginne ein neues Kapitel von Fleetwood Mac, gibt es auch für diesen Selbstbetrug warmherzigen Beifall. Die Leute sind nicht verrückt, sie sind nur dies: einverstanden. Also gebe ich mir etwas Mühe und tue es ihnen nach. Es fällt mir gar nicht so schwer.

Fleetwood Mac spielen etwa zweieinhalb Stunden ohne Unterbrechung, die Bühnenshow ist unaufdringlich, die Zugaben sind präzise choreographiert. Mike Fleetwood verabschiedet sich vom Publikum mit dem Gestus des Direktors eines Zaubertheaters. Wäret ihr nicht, sagt er, könnten wir Musiker nicht dieses wunderbare Leben führen. Richtig, denke ich. Und umgekehrt. Übrigens war Michael aus Trier auch zufrieden. „So nah an perfekt wie möglich“, sagt er beim Gehen. Und macht es für mich endgültig perfekt.