Corona-Brief Nr. 2
Die Maske. Physiognomie der Verhüllung
Jetzt kommt sie also doch, die Maske. Ich habe noch die hochrangigen Sätze im Ohr, nach denen sie wirkungslos oder gar kontraproduktiv sein sollte. Doch nun gehen die Anordnungen in eine andere Richtung, und ich höre viele Beschwerden über diese und andere Kehrtwenden. Ich habe dafür Verständnis, tatsächlich mag es ja so scheinen, als lebten wir momentan in einer Diktatur, in der die Herrscher für ihre Anordnungen unbedingten Gehorsam fordern, auch wenn ihre Ge- und Verbote einander in kurzen Abständen widersprechen. Allerdings müsste man dieser Diktatur zugute halten, dass die Herrschenden gleichzeitig eingestehen, nicht allwissend oder unfehlbar zu sein und sich womöglich demnächst für ihre Fehler in der Vergangenheit entschuldigen zu müssen. Ich kenne für diese Regierungsform kein historisches Vorbild. Oder gab es schon einmal einen „Selbstkritischen Absolutismus“? Ist mir nicht bekannt.
Nun also die Maske. Die Diskussion über den Sinn der Maßnahme überlasse ich, wenngleich widerstrebend, anderen. Ich habe zwar eine Meinung (oder die Meinung hat mich!), doch ich versuche mich in möglichst kurzen Abständen daran zu erinnern, dass ich weder Mediziner noch Epidemiologe bin und dass ich sehr froh darüber sein sollte, im Moment nicht lebenswichtige Entscheidungen für Millionen Menschen treffen zu müssen. Folglich ziehe ich die gedankenlos Maske auf, einerseits mit schlechtem Gewissen gegenüber meiner Selbstverpflichtung als autonomes, selbstdenkendes Individuum, andererseits mit einer gewissen Erleichterung, vieles nicht selbst entscheiden zu müssen.
Worüber ich aber frei räsonieren kann, ohne fremde oder eigene Kompetenzen zu verletzen, das sind die Umstände und die (nicht medizinischen) Folgen einer solchen Teilvermummung im öffentlichen Leben.
Was also passiert? Ganz einfach, Mund und Nase sind weg.
Bei der Nase ist das vielleicht nicht so schlimm. Sie ist zwar imstande, den Charakter eines menschlichen Gesichtes entscheidend zu prägen; allerdings trägt sie wenig zum situativen Ausdruck bei. Das kann sie einfach nicht, denn sie besteht zu einem Großteil aus Knochen und Knorpel, an denen nicht allzu viele Muskeln sitzen. Beachtung findet bereits derjenige, der die Spitze seiner Nase ein wenig wackeln lassen kann. Doch schon das Schnäuzen, ein der Nase eigentlicher Vorgang, verlangt eine Zuhilfenahme der Hände. Als einziges aktives Ausdrucksmittel kann die Nase sich bzw. kann man die Nase rümpfen, doch nach einer Reihe von Selbstversuchen empfinde ich das weniger als eine autonome Nasenbewegung und mehr als eine von der Oberlippe verursachte Nasenverschiebung. Womöglich variiert das von Mensch zu Mensch.
Aber der Mund! Er ist das mit Abstand beweglichste Element im menschlichen Gesicht und schon von daher mindestens so ausdrucksstark wie die Augen. Darüber hinaus ist er der Quell und der Gestalter der Sprache. Seine Bewegungen beim Sprechen reichen dem Tauben, der von den Lippen liest und versteht, was er gar nicht hört. Die Sprache aber ist es, die den Menschen ausmacht und der er Mensch seine steile, wenngleich gefährliche Karriere verdankt.
Und jetzt ist der Mund weg. Das heißt, er sitzt wie ein Lausbub bei Wilhelm Busch hinter der Hecke, bzw. der Maske und kann dort unbemerkt seinen Schabernack treiben. Ich habe entsprechende Selbstversuche bereits angestellt. Tatsächlich kann man als Maskenträger jemandem, der einem blöd gekommen ist oder den man sowieso noch nie mochte, die Zunge herausstrecken oder vor ihm die Zähne fletschen, und er oder sie bemerkt es nicht. Man kann ironisch grinsen, den Mund vor Ekel verziehen oder ihn höhnisch und in Verachtung verzerren, nichts davon wird vom Gegenüber bemerkt. Möglicherweise kommt es jetzt zum Ausbruch lange zurückgehaltener Aversionen – aber auch eben nicht zum Ausbruck, solange die Maske dem einen Riegel aus Stoff vorschiebt. Und ein zumindest gefühltes Zungezeigen könnte womöglich eine psychologisch reinigende Wirkung haben.
Doch das ist noch längst nicht alles. Mimische Botschaften beeinflussen bei jedem Sprechen das Gesprochene. Besser gesagt: Sie interpretieren es, womöglich haben sie sogar die Deutungshoheit darüber. Ein lächelndes „Hau ab!“ gibt Sohn oder Tochter die Erlaubnis zum Besuch einer Übernachtungsparty, ein „Hau ab!“ mit viel Zähnen und verzerrten Lippen dient als Einladung zur Prügelei.
In Coronamaskenzeiten aber reichen die mimischen Interpretationen des Mundes nicht weiter als bis zur Innenkante der Maske. Es zählen jetzt nur noch Text und Ton. Daran wird man sich gewöhnen müssen, und ohne Missverständnisse verschiedenen Schweregrades wird es nicht abgehen. Allerdings ist das Problem sehr vielen aus der digitalen Kommunikation bereits wohl bekannt. Dort übernehmen Smileys und Emoji die ausgefallene Textdeutung, die ansonsten Gesicht und Stimme leisten. Nebenbei bemerkt: Gelegentlich alpträume ich bereits von einer Generation, die sich nur noch in Piktogrammen ausdrückt, womöglich sogar dann, wenn sie einander ins Angesicht schaut. Schwierig aber dürfte es allerdings werden, die dringend erforderlichen Smileys und Emojis bedarfsgerecht auf die Außenseite der Masken zu platzieren. Angebote von Spezialmasken mit Medienoberfläche sind mir jedenfalls noch nicht begegnet
Mich selbst frage ich momentan, ob ich auf die Maskenzeit nicht bestens vorbereitet bin. Als Schriftsteller bin ich immerhin an eine reduzierte Form der Kommunikation gewöhnt; ich könnte auch sagen: Sie ist mein Beruf. Denn literarische Texte zu schreiben bedeutet, Stimme und Tonfall lediglich durch die gedruckte Sprache entstehen zu lassen. Literarische Texte fingieren nicht nur Geschichten, sondern auch den Mund, der sie im Kopf des Lesers erzählen wird.
Leider wittere ich als ambitionierter Pessimist auch gleich Probleme. Denn meine Fixierung aufs Gedruckte hat zu einer déformation professionelle geführt. Kurz gesagt: Ich hasse es, wenn man in unvollständigen Sätzen mit mir redet, die ich selbst zu Ende denken muss, wobei mir dann hoffentlich Tonfall, Stimmlage und insbesondere die Mimik des verstummenden Sprechers gewisse Hilfestellungen geben. Ebenfalls nebenbei bemerkt: Nach meiner persönlichen Wahrnehmung ist das Sprechen in unvollständigen Sätzen geradezu ein Volkssport geworden, womöglich eine Folge der politischen Korrektheit, die die Furcht vor Prädikaten oder adverbialen Bestimmungen der Art und Weise schürt.
Wie dem auch sei – mit der Maske wird es schwierig! Denn jetzt bleiben mir als Hinweis auf einigermaßen sinnvolle Satzvervollständigungen nur die Augen des Sprechers, und ich befürchte stark, dass Menschen, die keine Schauspielschule besucht haben, mit so etwas wie „schelmischem Lächeln“ oder „strengem Blick“ überfordert sind, wenn der Mund den Augen nicht zur Hilfe eilen kann.
Natürlich höre ich jetzt den Satz, den ich seit meiner Geburt höre. Er lautet: „Du übertreibst!“ Stimmt, das ist meine Berufung. Doch wenn ich auch vermute, dass philosophische Dispute oder Ehekräche weiterhin ohne Maske (jedenfalls ohne Coronamaske) ausgetragen werden, so fürchte ich doch um den Verlust so vieler schöner und vor allem wichtiger Nuancen in der Alltagskommunikation. Wo aber die Nuancen fehlen, da wachsen die Missverständnisse. Wenn die Masken Nonchalance, Selbstkritik und Ironie unterdrücken, dann wird, so fürchte ich, nur noch Klartext geredet. Und der ist oft genug die Ouvertüre zur Prügelei.