Heimatstadt Münster
März 2019
Liebe Hörerinnen und Hörer,
ein ganzes Jahr lang durfte ich an dieser Stelle aus meiner Heimatstadt Münster berichten – Moment mal! Habe ich gerade Heimatstadt gesagt? Ja, ich denke, das habe ich getan. Wie ist mir das denn so einfach über die Lippen gekommen? Es gibt doch mindestens zwei Gründe dafür, dass ich mit dem Wort „Heimatstadt“ ein bisschen vorsichtiger sein sollte.
Der erste Grund ist der, dass nach allgemeinem Sprachgebrauch Münster nicht so richtig meine Heimatstadt ist. Geboren bin ich nämlich am anderen Ende von Nordrhein-Westfalen, in Mönchengladbach, und ein Teil meiner Familie stammt sogar aus den nahen Niederlanden. Vielleicht bin ich also bloß ein Exilwestfale mit niederländisch-rheinischem Migrationshintergrund.
Aber Spaß beiseite. Denn schwerwiegender ist der zweite Grund, warum ich mit Wörtern vorsichtig sein sollte, in denen „Heimat“ vorkommt. Heimat ist nämlich momentan ein ganz schwieriges Wort. Wegen des Missbrauchs, den die Nazis damit getrieben haben, war es eine Zeitlang aus dem öffentlichen Sprachgebrauch geradezu verbannt. Das war ungefähr so angemessen und gerecht, als würde man Kinder, die missbraucht worden sind, für den Rest ihres Lebens im Haus verstecken.
Jetzt aber hat man das Wort Heimat wieder an die frische Luft gelassen, und es durfte sogar Ministerien gründen, die dafür zuständig sein sollen. Um das Wort Heimat ist mittlerweile eine Art Verteilungskampf ausgebrochen; praktisch alle politischen Gruppierungen missgönnen es einander, wahrscheinlich, weil sie wissen, dass man mit dem so harmlos scheinenden kleinen Wort immer noch Menschen mobilisieren kann, um es vorsichtig auszudrücken.
Folgerichtig sollte ich mich sehr sorgfältig fragen, was ich denn meine, wenn ich Münster meine Heimatstadt nenne. Immerhin bin ich doch jemand, dessen Beruf es ist, besonders gut darauf Acht zu geben, was er sagt.
Nach gründlichem Nachdenken habe ich nun beschlossen, der Stadt Münster eine Eigenschaft zuzusprechen, einen Charakter, der sie vor allem anderen für mich heimatfähig gemacht hat. Ich sage: Münster ist ein hermetischer Schmelztiegel.
Und nun sagen Sie: Das geht doch gar nicht. Das ist, wie der Lateiner sagen würde, eine Contradictio, ein innerer Widerspruch, so etwas wie „schwarzer Schimmel“.
Worauf wiederum ich Ihnen sage: Stimmt genau!
Münster, so wie ich es in den letzten vierzig Jahren erlebt habe, ist eine Doppelstadt. Da ist auf der einen Seite die etwas behäbige westfälische Metropole mit ihrem alteingesessenen Bürger- und Kaufmannstum, dessen Zufriedenheit mit sich selbst gelegentlich an Selbstgefälligkeit grenzt. Die Stadt Münster besitzt zwar keine Stadtmauer mehr, aber die Altbürger schauen immer noch lieber auf den eigenen Bauchnabel als über den Tellerrand, was allerdings auch den nicht zu leugnenden Vorteil hat, dass sie sich nicht dauernd über alles Mögliche aufregen.
Auf der anderen Seite ist da das Münster, das durch den nicht abreißenden Zuzug von Leuten geschaffen wird, die hier ankommen, eine Zeitlang bleiben, viele wegen des Studiums, und dann entweder weiterziehen oder hier ansässig werden, wie ich es einmal getan habe. Dieses Münster interessiert sich wenig für analoge Traditionen, sondern platziert sich bevorzugt in der globalen und digitalen Welt.
Diese beiden Städte berühren sich nun zwar, täglich und überall, sie durchdringen einander, aber sie heben sich nicht gegenseitig auf, und sie verschmelzen nicht bis zur Unkenntlichkeit miteinander. Vieles ist in Münster immer noch so wie vor 50 Jahren, und vieles ist radikal anders.
Wenn ich ein Bild für das Miteinander des alten und des neuen Münster finden soll, dann würde ich sagen, sie leben zusammen wie Studenten ganz verschiedener Fachrichtungen, die sich eine WG teilen. Die Jurastudentin, der Mediziner, die Ökotrophologin und der Soziologiestudent werden im geistigen Sinne nie eins werden; aber wenn es um das Zusammenleben im Alltag geht, entwickeln sie eine erstaunliche Nähe, die von Pragmatismus und Kompromissbereitschaft getragen ist.
Ich hoffe, Sie verstehen dieses Bild. Ich möchte mich damit von meiner Aufgabe als Münster-Korrespondenz verabschieden. Schließen wollte ich hier mit dem Westfälischen Gruß „Gued gaon“, was „Lass es dir gut gehen“ heißt. Aber das kannte meine digitale Spracherkennung natürlich nicht. Sie schrieb statt „Gued gaon“ „Vertrauen“.
Und das ist ja auch nicht schlecht.