Corona-Brief Nr. 40
Induzierte Depression (21. März 2021)
Ich habe einmal von einer Therapie gehört, die folgendermaßen funktioniert: Man lässt Menschen, die sich in einem Stimmungstief befinden, laut und anhaltend lachen und dabei im Kreis hüpfen. Die Idee dahinter ist, dass der Geist, wenn der Körper die Bewegungen und die Laute der Freude hervorbringt, selbst in einen freudigen Zustand gerät.
Ich habe das, als ich erstmals davon hörte, für ziemlich albern gehalten, habe aber immer wieder darüber nachgedacht und nach Beispielen zur Bestätigung oder Widerlegung dieses Junktims gesucht. Gerate ich, wenn ich mich festlich kleide, in eine festliche Stimmung? Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen und würde womöglich die Kleidervorschriften bei gewissen Veranstaltungen als Maßnahme zur Harmonisierung der allgemeinen psychischen Verfassung erklären. Produziert die Uniform in der Armee uniforme Gefühle? Aus meiner Erinnerung sage ich: ja. Auch hat wohl jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, dass Gähnen oder Weinen „ansteckend“ ist und beim „Infizierten“ die entsprechenden Gefühle auslöst.
Seit einem Jahr nun befindet sich eine verdammt große Menge der Weltbevölkerung (zu der auch ich gehöre) in einem Experiment, bei dem es unter anderem um den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen Verhaltensformen und psychischem Zustand geht. Bei dem psychischen Zustand handelt es sich um die weidlich bekannte Depression.
Woran ist deren Vorhandensein normalerweise zu erkennen? Da stellen wir uns einmal ganz dumm, würde ein großer Theoretiker im frühen deutschen Unterhaltungsfilms sagen. Mehr oder weniger eindeutige Erkennungszeichen dafür, dass eine Person (P) an einer Depression leidet, sind die folgenden:
P kommt morgens nur schwer aus dem Bett und sieht sich auch dann, wenn ihn der kleine gelbe Sonnenschein durch die einzige Ritze zwischen den Rollladen hindurch an der Nase kitzelt und ihm dabei die ganze Schönheit der Welt verspricht, nicht dazu veranlasst, etwas anderes zu tun, als sich umzudrehen und sich die Decke über den Kopf zu ziehen. Steht P dann dennoch irgendwann auf, wechselt er vom Schlafanzug allenfalls in den Jogginganzug, vorausgesetzt, er hat nicht schon im Jogginganzug geschlafen. Die Morgentoilette reduziert er auf das Notwendigste oder lässt sie vollkommen ausfallen. An Nahrungsaufnahme ist er entweder vollkommen uninteressiert, oder er übertreibt sie und bevorzugt dabei Nahrungsmittel, die nicht zur Tageszeit passen und darüber hinaus seiner Gesundheit schaden. Den Rest des Tages verbringt er damit, nichts zu tun. Er weigert sich, das Haus zu verlassen, sei es, um einer geregelten Tätigkeit nachzugehen, sei es, um ein Hobby zu pflegen. Er unterhält keine echten und fruchtbaren sozialen Kontakte, schlimmer noch: Er geht ihnen aus dem Weg. Das Telefon lässt er läuten oder stellt es ab. Befragt man ihn nach dem Grund für dieses Verhalten, sagt er wahrscheinlich, dass alles menschliche Tun und Trachten auf Erden seiner festen Überzeugung nach vollkommen sinnlos sei und dass Gespräche mit anderen eigentlich immer denselben Inhalt hätten und ihn entweder langweilten oder aufregten. Trotz oder wegen seiner allumfassenden Untätigkeit fühlt sich P abends angespannt und zerschlagen, aber da er nicht darauf hoffen darf, bald Schlaf zu finden, gibt er sich Tätigkeiten hin, die, oberflächlich betrachtet, anregend zu sein scheinen, sich tatsächlich aber in der geistlosen Wiederholung der immer gleichen Handlungen und Wahrnehmungen erschöpfen.
Soweit P, der oder die Depressive. Das weltweit stattfindende Experiment, von dem ich eingangs sprach, besteht nun darin, einer nach Maßgabe sozialwissenschaftlicher Standards exorbitant großen Menge von Probanden ein Leben aufzudiktieren, das in seinen äußeren Erscheinungsformen dem Leben der Depressiven geradezu aufs Haar gleicht. Und das geht so:
Man lässt die Betreffenden nicht aus dem Haus, indem man ihre Betätigungsfelder schließt. Selbst wenn sie arbeiten wollten und mit Macht danach strebten, so dürften sie nicht nur nicht, sie könnten auch nicht. Zusätzlich erlegt man ihnen auf, nicht etwa die Existenz eines fröhlichen Nomaden oder Vagabunden anzunehmen, sondern hübsch fein zu Hause zu bleiben. Sie haben also morgens angesichts des kleinen Sonnenstrahls keinerlei Veranlassung, das Bett zu verlassen. Ähnliches gilt für ihre Kleidung, denn es wäre ja geradezu Wahnsinn, einen Anzug oder Kostüm anzulegen, um darin sechzehn Stunden auf dem Küchenstuhl oder im Wohnzimmersessel zuzubringen, bzw. wieder im Bett. Ein Großteil der Ersatzbetätigungen, mit denen die Probanden für gewöhnlich ihre freie Zeit füllen (z.B. Sport) wird untersagt, um das Zuhausebleiben nach Möglichkeit absolut zu setzen. Und schließlich – aber nicht zuletzt! – wird der direkte Kontakt mit Mitmenschen zwar nicht vollständig untersagt, aber nachdrücklich als gefährlich, ja, geradezu toxisch beschrieben. Und was Telefonate oder digitale Kontakte angeht, so werden sie durch die Fixierung auf ein einziges Thema schnell zur Qual. Es bleibt den Probanden letzten Endes nur der Konsum von Streaming-Serien, deren repetitiver Charakter von ihrer bunten Gestaltung zumindest einigermaßen verdeckt wird.
Und jetzt die große Frage, die dem Experiment zu Grunde liegt: Werden Menschen, die man über Wochen und Monate dazu zwingt, sich zu verhalten wie Depressive, auch tatsächlich depressiv? Wenn das befohlene Lachen und Hüpfen den Geist aufmuntert, was macht dann das befohlene Liegen und Bleiben und Schweigen mit ihm?
Eine rhetorische Frage? –
Nachtrag: Dieser Text ist kein Plädoyer für irgendwelche „Lockerungen“. Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass wir uns in einem Kampf (um das Wort Krieg zu vermeiden) befinden, der gewonnen werden muss. Dem Coronavirus gegenüber gibt es kein „Ja, aber“ und erst recht keine Friedensbewegung. Es ist böse, so böse wie die Invasoren in „Independance Day“. Es gehört ausgerottet, basta. Aber die Opfer, die dabei gebracht werden müssen, sind wahrlich immens.
Das sage ich als einer der Probanden.