Corona-Brief Nr. 39

Als Lehrer in Distanz (15. März 2021)

Als die Schulen im Frühjahr des vergangenen Jahres zum ersten Mal geschlossen wurden, war F. recht optimistisch. Schon seit langer Zeit hatte der Deutschlehrer an einem beruflichen Gymnasium mit seinen Schülerinnen und Schülern außerhalb des Unterrichts per Mail kommuniziert. Hausaufgaben nahm er am liebsten in digitaler Form entgegen, da dies eine Korrektur erheblich vereinfachte. Wahrscheinlich hatte er zu diesem Zeitpunkt verdrängt, dass oft höchstens 50 Prozent einer Klasse von diesem Angebot Gebrauch machten. Also sah er die unterrichtsfreie Zeit vor allem als Chance. Endlich war ausreichend Zeit zum Üben. Und das schien ihm auch bitter nötig. Seit vielen Jahren hatte er beobachtet, wie die Schreibkompetenz seiner Schülerinnen und Schüler kontinuierlich schlechter wurde. Auch die Fähigkeit, komplexe Texte zu verstehen, hatte erheblich nachgelassen, aus welchen Gründen auch immer.

Gerne benutzte F. die Sportanalogie. Wer nicht trainiert, bringt keine Leistungen. Das gelte, davon war er überzeugt, für das Lesen und Schreiben ebenso wie für Leichtathletik und Fußball. Also versorgte er seine Klassen mit Texten und Schreibaufträgen und sagte zu, alle eingesandten Texte korrigiert und mit Anmerkungen versehen zurückzuschicken. Doch auf entsprechende Rückmeldungen wartete er vergebens. Vereinzelt trudelten Mails ein, nicht immer mit Anhang. So wollte die Schülerin seines Leistungskurses, der immerhin kurz vor der Abiturprüfung stand, nur wissen, ob sie angesichts der Entscheidung des Ministeriums, die während der Schulschließung zuhause angefertigten Arbeiten dürften nicht in die Notengebung einfließen, ihre Aufgaben bearbeiten müssten. Der Hinweis, es handle sich immerhin um eine sinnvolle Prüfungsvorbereitung, blieb unbeantwortet.

Später erfuhr F., dass seine Vorstellungen eh nicht mehr zeitgemäß seien. Statt Aufgaben per Mail zu versenden und auf Antworten zu hoffen, müsse man Unterricht als Videokonferenz durchführen. Er selbst hatte allerdings bei einer digitalen Dienstbesprechung nach nur 60 Minuten Kopfschmerzen bekommen. Und den Schülern dürfte es, trotz einer größeren Affinität zum Medium, wenig anders gehen. Wer acht Stunden lang mit Begeisterung Fortnight spielt, kann noch lange keinen achtstündigen Schultag sinnvoll vor dem Bildschirm verbringen.

Wahrscheinlich, davon ist F. immer mehr überzeugt, gibt es gar keine sinnvolle Alternative zum so genannten Präsenzunterricht. Selbst die 30 bis 40 Prozent einer Klasse, die weder besonderes Interesse noch Talent für das erteilte Fach aufbringen und ihren Abschluss mit Minimalaufwand und ausreichenden Noten erlangen, bekommen in der Regel etwas davon mit, was im Klassenraum passiert. Doch die Energie, mehrere Stunden lesend und schreibend am häuslichen Schreibtisch zu verbringen, besitzen sie nicht. Damit unterscheiden sie sich übrigens wenig von den meisten Erwachsenen.

Nun sind die Schulen wieder zu. F. wird es noch einmal mit Aufgaben probieren, allerdings nicht ohne den ausdrücklichen Hinweis, dass die häusliche Arbeit diesmal bewertet wird. Extrinsische Motivation nennt man das. Und die ist, das zeigt die Erfahrung, ziemlich effektiv.

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Inzwischen sind einige Monate vergangen und der Distanzunterricht funktioniert mit der Plattform IServ recht ordentlich. Wenn denn die Schülerinnen und Schüler mitspielen. In einem eher kleinen Kurs gelingt die Arbeit sehr gut. Schüler und Lehrer sind zufrieden. Auf die Nachfrage, ob gelegentlich eine Videokonferenz erwünscht sei, wurde F. abschlägig beschieden. Man komme, mailte ein Schülervertreter, mit der momentanen Praxis sehr gut zurecht. F. ist ganz froh darüber. Sein Versuch, mit einem anderen Kurs per Video zu kommunizieren, was kein pädagogischer Erfolg. Von 22 Schülerinnen und Schülern waren 16 irgendwann während der 60-minütigen Veranstaltung anwesend, aber nur zwei hatte ihre Kamera eingeschaltet. Auch junge Menschen schätzen ihre Privatsphäre und zeigen sich ungern anderen im Schlafanzug und mit ungewaschenem Haar. (Das ist kein Witz. Neulich wurde das verspätete Einreichen einer Aufgabe damit entschuldigt, dass der Wecker nicht funktioniert habe. Der Termin war um 12 Uhr mittags.) Aber das sind alles Nebensächlichkeiten. Inzwischen ist F. davon überzeugt, dass vor allem eines fehlt: das gegenseitige Lernen. Denn selbst im lehrergesteuerten Unterricht profitieren Schülerinnen und Schüler voneinander. Und nicht nur das. Auch Lehreinnen und Lehrer sind auf die unmittelbaren Reaktionen ihrer Klasse angewiesen. Schon oft ist es F. passiert, dass er einen vermeintlich hinlänglich bekannten literarischen Text aufgrund einer Schüleräußerung mit anderen Augen sah. Jetzt fällt es ihm immer schwerer, die folgenden Unterrichtsstunden in Form von sinnvollen Aufgaben zu konzipieren.

Nun hat die Schulministerin beschlossen, dass vor den Osterferien alle Klassen wieder wenigstens ein bisschen Präsenzunterricht verdient haben. Also muss F., der auch für den Stundenplan zuständig ist, wenn es die Klassengröße notwendig macht, Wechselunterricht organisieren. Der Unterricht findet, wie schon vor dem „Lockdown“, bei geöffneten Fenstern statt. Schüler und Lehrer tragen einen Mund-Nasen-Schutz und manchmal auch dicke Jacken. Die Verständigung ist schwierig.

Viele Kolleginnen und Kollegen müssen nun praktisch gleichzeitig „präsent“ und „distanziert“ sein. Das ist ein nur schwer zu bewältigender Spagat. Dazu kommt die nicht zu leugnende Angst, sich zu infizieren. Denn das Personal weiterführender Schulen muss noch geraume Zeit auf eine Impfung warten.

Vielleicht hilft es, Stoiker zu werden, denkt F., denn die seiner Berufsgruppe häufig unterstellte Tendenz zum Jammern auf hohem Niveau mag er nicht. Aber so richtig gelingt es ihm nicht, sich in Gelassenheit zu üben.