Corona-Brief Nr. 41

Rückblicke (30. März 2021)

 

Die Zahl 41 gilt in unserem Kulturkreis nicht unbedingt als jubiläumsfähig; und daran ändert auch nichts, dass ich an meinem 41. Geburtstag ein historisches Stimmungstief zu verzeichnen hatte. Aber in einer Zeit der Verstörung aller Werte erlaube ich mir, meinen 41. Corona-Brief für eine kleine Sammlung von kurzen Rückblicken auf die bisherigen Texte zu nutzen.

In Corona-Brief Nr. 1 („Besser blind? Corona vs. Pest“) hatte ich als ein Hauptproblem der Pandemie ihre Selektivität bezeichnet. Der eine erliegt ihr, der nächste hat eine kleine Grippe, wieder ein anderer spürt sie gar nicht. Dabei erfolgt die Auswahl offenbar nicht durch den reinen Zufall, es gibt deutlich mehr und weniger gefährdete Menschen, das Alter spielt die wohl entscheidende Rolle.

Ich habe mir damals Widerspruch eingehandelt. Ich solle die Seuche nicht wählerischer und damit klüger oder böser machen als sie ist, hieß es. Ich wollte das auch einsehen; aber fast ein Jahr später scheinen mir die extrem unterschiedlichen Haltungen, die die Menschen je nach Grad ihrer persönlich empfundenen Gefährdung der Pandemie gegenüber einnehmen, ein wesentliches Problem bei ihrer Bekämpfung zu sein. Drastisch formuliert: Hätten alle gleichermaßen große (und berechtigte) Angst um ihr Leben, so wären wirksame Maßnahmen zum Infektionsschutz wahrscheinlich viel besser durchzusetzen. So aber erleben wir einen Meinungsstreit, in dem es keine echte Lösung geben kann, solange die Aspekte „Schutz des Lebens“ und „Schutz der Ökonomie“ mehr oder minder gleichrangig eingeschätzt werden. Wäre Corona die Pest, würde wohl kaum einer den allerhärtesten Lockdown infrage stellen, der, wenn ich den Epidemiologen Glauben schenken darf, der Seuche zuverlässig den Garaus machen würde. Corona ist allerdings nicht so gefährlich wie die Pest; und ich fürchte, das macht allmählich seine größte Gefahr aus.

In Corona-Brief Nr. 2 („Die Maske. Physiognomik der Verhüllung“) war ich noch geneigt und imstande, das Phänomen auf eine eher intellektuelle, verhaltenspsychologische Art und Weise zu betrachten. Inzwischen sage ich lieber: Die Maske stinkt mir. Besser noch: Ich stinke mir in ihr. Mehr möchte ich dazu eigentlich gar nicht sagen. Nur dies noch: Einer der wenigen angenehmen Nebeneffekte meiner Verbannung ins Home Prison ist, dass ich die Maske nur wenige Minuten am Tag tragen muss.

In Corona-Brief Nr. 4 („Schicksalssatt“) hatte ich das Leben meiner Großeltern Revue passieren lassen, ein Leben von im Schnitt 75 Jahren, das mindestens zur Hälfte in Zeiten stattfand, die sich mit denen der Corona-Pandemie durchaus messen konnten, wenn sie nicht sogar gefährlicher, depravierender und demütigender waren. Dagegen hielt ich mein eigenes Leben, in dem fast ausschließlich ich selbst (bzw. mein Körper) für existenzielle Bedrohungen gesorgt hat, während so vieles durch Bildungssystem, Gesundheitssystem, Versicherungssystem etc. befördert, behütet und bewahrt wurde.

Wenn ich im letzten Jahr gesprächsweise auf die „Normalität des Schreckens“ im Leben selbst unserer unmittelbaren Vorfahren aufmerksam gemacht habe, brachte mir das allerdings oft den Vorwurf des „Biafra-Argumentes“ ein, gegen das ich mich als Kind selbst verwahrt hatte. Damals hieß es: „Iss dein Gemüse. Denk an die Kinder in Biafra, die haben gar nichts zu essen.“ Dieses Argument war irgendwie falsch, und es machte auch das Gemüse nicht schmackhafter. In Analogie dazu gelingt es mir heute nie, Menschen, die ökonomische Einbußen fürchten, damit zu trösten, dass ihre Eltern und Großeltern in Schützengräben und Bombennächten um ihr Leben zu fürchten hatten. Demut und dergleichen sind unter Corona nicht leichter zu finden als sonst.

Allerdings muss ich zugeben, dass ich mich für das Versagen meines Biafra-Argumentes in letzter Zeit schäbig räche. Dabei helfen mir die Schlagzeilen in BILD, wenn sie gerade von einem der Apokalypse zugetanen Redakteur verfasst werden. Unlängst wurde dort vor einer Corona-Mutation gewarnt, gegen die eine Impfung nicht mehr helfe. Mit Hinweis darauf habe ich jetzt bereits ein paarmal beiläufig erwähnt, dass man sich nicht so sehr über Corona bzw. die Maßnahmen dagegen beschweren solle, da man doch immerhin die Chance vor Augen sehe, dem Untergang der gesamten Menschheit beiwohnen zu können. Worüber Generationen vor uns nur spekuliert und dem sie ganze Gedankengebäude (Religion) gewidmet hätten, das dürften wir womöglich mit eigenen Augen erleben, ähnlich wie die digitalen Statisten in den Weltuntergangsfilmen aus Hollywood, nur eben ganz real.

Die Wirkung, die ich mit solchen Gesprächsbeiträgen erreiche, liegt nun auch nicht in einer Steigerung von Demut oder Langmut. Aber sie ist ganz schön kräftig, ich ernte viele perplexe Reaktionen; und zu denen gestatte ich mir dann ein böses Grinsen, das hinter meiner Maske natürlich niemand zu sehen bekommt.

In Corona-Brief Nr. 5 („Geisterspiele“) hatte ich die Abwesenheit der Zuschauer bei Fußballspielen beklagt, weil meiner Meinung nach erst die Interpretationsleistung der Menschen im Stadion der sportlichen Betätigung auf dem Rasen ihre Bedeutung und ihre Mythenfähigkeit und damit genau das gibt, womit die Branche gewaltige Summen umsetzt.

Inzwischen ist fast eine ganze Saison mit solchen Geisterspielen auf allen Ebenen und in allen Ligen absolviert. Mir persönlich ist vom Fußball in dieser Zeit ein ganzes Stück abhanden gekommen, und das, obwohl ich kein regelmäßiger Stadionsbesucher bin. So kommt es vor, dass ich am Samstagnachmittag das kleine Radio, das mich seit Jahrzehnten in diesen Stunden begleitet, mitsamt der angestrengten Kommentarstimme irgendwo stehenlasse. Und noch häufiger schwänze ich die Sportschau oder zeichne sie auf, um sie mir dann gar nicht anzusehen.

Ich möchte meine These aus Corona-Brief Nr. 5, daher ganz leidenschaftlich wiederholen und betonen: Fußball ist, was die Zuschauer daraus machen; ohne Zuschauer verliert er dramatisch an Substanz.

Als besonders grausam habe ich diesen Bedeutungsverlust angesichts der Person des scheidenden Bundestrainers Löw empfunden. Obwohl ich (und ein paar Millionen anderer) ihn seit der letzten Weltmeisterschaft als sportlich angeschlagen empfanden, hielt ich ihm doch eingedenk seiner Funktion und seiner Verdienste in gewisser Hinsicht die Treue, auch wenn diese Treue meistens darin bestand, dass ich mir Interviews mit ihm nicht zu Ende ansah. Seit Corona aber konnte ich seine Auftritte im Anschluss an die ebenfalls stark relevanzreduzierten Länderspiele kaum noch ertragen. Das wiederkehrend ausgestoßene „au“ (für „auch“), bislang als putziger Regionalismus ebenso ertragen wie die durch die geschlossenen Zähne eingezogene Luft, jetzt endlich kamen sie mir vor wie die Unheil verkündenden Geräusche einer altgedienten Maschine, die niemand berühren will, aus Angst, das werde sie zerstören. Freilich fürchte ich, dass unter den Pandemiebedingungen auch sein Nachfolger (oder seine Nachfolgerin) sich schwer darin tun werden, dem Fußball neuen Glanz zu verleihen, sei es im Stadion, sei es im Studio.