Corona-Brief Nr. 38
Lesen rettet! Erste Folge: Vladimir Nabokov: Lolita (1. März 2021)
Ich habe alles Verständnis der Welt für Menschen, die unter der Pandemie Langeweile empfinden. Und ich bin mir absolut darüber im Klaren, dass Langeweile kein Luxusgefühl ist, sondern eine schwere Beeinträchtigung der psychischen Gesundheit bedeuten kann. Ich bin mir auch bewusst, dass es eine äußerst schwierige Angelegenheit ist, die Langeweile anderer Menschen durch gute Ratschläge zu vertreiben. Was Menschen gegen ihre Langeweile tun ist so verschieden wie sie selbst es sind. Ich möchte deshalb niemandem mein Rezept gegen die Langeweile aufdrängen. Ich berichte nur ein bisschen über das, was mich momentan knapp diesseits der Depression hält.
Ja, die Überraschung bleibt aus: Es ist das Lesen.
Zu Ostern 1963, vermutlich am 16. April dieses Jahres, wurde ich eingeschult. Ich lernte anschließend das Lesen bei einer eigentlich bereits pensionierten Lehrerin, die sage und schreibe Frau Schmitz hieß und die nach meinen Berechnungen ihre Ausbildung zur Volksschullehrerin noch im Kaiserreich absolviert hatte. Sechs Wochen später, zu Pfingsten, konnte ich, wenn ich den Erzählungen meiner Eltern glauben schenken darf, einigermaßen flüssig lesen.
Und was habe ich in den fast 58 Jahren, die seitdem vergangen sind, nicht alles gelesen!
Ich tat es natürlich, um dies und jenes zu erfahren, insbesondere aber, um mich lesend in eine andere Welt zu versetzen als die, in der zu leben mir bestimmt war. Diese Welt war keineswegs besser. Schon die (ungeliebten) Karl May Romane waren voller bedauerlicher Ereignisse, und die (geliebten) Sagen des klassischen Altertums waren es sogar noch mehr. Und nach der Phase der Kinderbücher, durch die ich mich gelesen habe wie durch einen übersüßten Reisberg, wartete auf mich in der Stadtbibliothek Mönchengladbach geradezu ein Kosmos misslingenden Lebens und tragischer Schicksale. Aber alles gelesen!
Denn Lesen rettet, auch wenn die Helden der Literatur scheitern, sogar wenn einem über ihrem Schicksal die Tränen kommen. Mich jedenfalls rettet es zuverlässig für Stunden vor der grüblerischen Beschäftigung mit der sogenannten Wirklichkeit. Ich habe IMMER ein Buch dabei, insbesondere: beim Aufenthalt im Wartezimmer des Arztes, bei Zugfahrten und bei Schlaflosigkeit; diese erscheinen mir ohne Lektüre vollkommen unerträglich. Kein Wunder also, dass die Pandemie meinen Lesedurchsatz noch einmal dramatisch erhöht hat.
Und damit ist das Loblied des Lesens an und für sich auch schon abgeschlossen. Allerdings möchte ich heute beginnen, in loser Folge ein paar Bücher vorzustellen, die mir womöglich in nicht verseuchten Zeiten entgangen wären. Es werden durch die Bank keine Geheimtipps sein, eher im Gegenteil: Ich habe nämlich auch Bücher gelesen (und tu das noch) aus dem Grund, dass mir ihre Unkenntnis ein bisschen peinlich war. Bücher, von denen ich seit Jahrzehnten wusste (womöglich zu viel wusste), ohne sie wirklich zu kennen. Infolgedessen beginne ich heute auch mit einem Buch, bei dem es möglicherweise vielen ähnlich wie mir ergeht:
Vladimir Nabokov: Lolita
Wenn man ins Google den Namen Lolita eingibt und die Bildersuche betätigt, erscheint in der ersten Reihe der Ergebnisse ein Foto der Schauspielerin Sue Lyon, die 1962 mit 14 Jahren in der ersten Verfilmung von Nabokovs Roman durch Stanley Kubrick die Hauptfigur verkörperte. Eine junge Frau, ein Mädchen noch, liegt im Bikini und in lässiger Pose auf dem Gras. Sie trägt einen Strohhut und schiebt gerade ihre Sonnenbrille von den Augen. Vor ihr liegt ein aufgeschlagenes Buch, das ihre zweifelsfrei erotische Ausstrahlung eher noch unterstreicht.
Das ist die Lolita, die ich immer vor Augen hatte (und sicher nicht nur ich), ohne den Film je gesehen zu haben: die Heranwachsende, die mit einer Mischung aus mädchenhafter Unschuld und nymphenhafter Verführungskunst einen Mann im mittleren Alter um den Verstand und in die Kriminalität bringt. Und genau dies – hat nichts mit der Hauptfigur des Romans zu tun!
Nabokovs Dolores „Lolita“ Haze ist keine Lolita. Sie ist ein zwölfjähriges Mädchen, das durch eine Verkettung von Umständen in den „Besitz“ eines Mannes um die Vierzig gerät , der seine pädophile Neigung bislang wie ein wildes Tier im Käfig seiner bürgerlichen Existenz gefangen gehalten hat. Angesichts Dolores, der Tochter seiner Wirtin, bricht das Tier aus. Der Mann heiratet die Wirtin, um der Tochter näher zu sein, und gerade als er droht, entdeckt zu werden, stirbt die Frau bei einem Unfall, und der Mann ergreift die Gelegenheit. Er gibt Dolores erfolgreich als seine Tochter aus und flieht mit ihr, um sich ihrer nach Gusto bedienen zu können.
Lolita ist keineswegs der Roman einer jugendlichen Verführerin, sondern ein Text, der tief ins Innere des Bewusstseins eines „durchschnittlichen“ Pädophilen dringt. Besser gesagt: indem er es in allen seinen furchtbaren Details entwirft. Der Leser erlebt in nächster Nähe die gedanklichen Konstrukte, die der Täter aufbaut, um seine Taten und deren Opfer so herzurichten, dass eine in sich schlüssige Welt entsteht, in der er zu leben vermag, ohne dass sein Gewissen in martert.
Mehr will ich gar nicht sagen. Das Thema Pädophilie wird 65 Jahre nach dem Erscheinen des Romans wahrscheinlich so intensiv diskutiert wie nie zuvor. Auf der einen Seite ist der (medial angefachte) Abscheu, auf der anderen die (medial angefachte) Verbreitung des Phänomens. Die Lektüre von „Lolita“ beschert dem Leser keine neue „Meinung“ oder „Erklärung“. Dafür eröffnet ermöglicht sie eine ebenso aufschlussreiche wie verstörende Einsicht in das Bewusstsein eines Täters, wie sie meines Erachtens kein anderes Format als der Roman so eindrücklich leisten kann.
Nabokov hatte sich schon Jahre zuvor, in seinem Roman „Gelächter im Dunkel“ (noch auf Russisch geschrieben) mit dem Phänomen einer „asynchronen Beziehung“ beschäftigt. Doch hier ging es noch gewissermaßen konventionell um den Fall eines Mannes in die erotische Gier und seinen daraus resultierenden Verfall. In „Lolita“ hat Nabokov an der Schraube dieses Phänomens gedreht, bis es von einem psychologischen zu einem ganz und gar pathologischen wurde.
Beide Romane sind in verschiedenen Ausgaben erhältlich. Die hoffentlich bald wieder geöffneten Buchhandlungen warten auf den interessierten Leser.