Corona-Brief Nr. 7
Über Verschwörungstheorie (31. Mai 2020)
Das Wort hat eine sehr üble Aura. Man muss es nur aussprechen, und schon erscheint er vor dem geistigen Auge: der ungepflegte und schlampig gekleidete Menschen im mittleren Alter mit dem selbstgebauten Stanniolhut auf dem Kopf (der ihn vor Strahlen schützen soll), dem wilden Glänzen im Blick und dem Plakat in der Hand, auf dem er in wackligen Buchstaben eine Kurzfassung seiner Welterklärungstheorie niedergelegt hat. Es ist eine der üblichen Vorsichtsmaßnahmen im (groß)städtischen Alltag, den Kontakt zu Verschwörungstheoretikern zu meiden. Besser, man macht einen großen Bogen um sie herum. Denn wenn man versucht, sie auf den Boden der Tatsachen und des gesunden Menschenverstandes zu holen, reagieren sie aggressiv; und schenkt man ihnen ein wenig freundliches Interesse, so bestrafen sie einen mit stundenlangen Vorträgen, die sich in immer abstrusere Regionen hinaufschrauben.
Es ist kein Wunder, dass die Corona-Pandemie ein besonders stimulierendes Klima für Verschwörungstheorien schafft. Sie liefert alles, was deren Wachstum fördert: eine (globale) Bedrohung, wissenschaftlich unerforschte Phänomene, die Beteiligung verschiedener Instanzen, ungeklärte Zusammenhänge. Zu toppen wäre die Pandemie womöglich nur durch die Landung unbekannter Raumschiffe.
Aber wie wäre es? Lockern wir doch mal für eine kurze Zeit die Regeln zur Distanzhaltung gegenüber dem Gedankengut der Leute mit den Stanniolhüten und fragen wir uns im naiven Stil des Physiklehrers aus der Feuerzangenbowle: „Wat is eijentlich en Verschwörungstheorie?“
Stark verknappt könnte man sagen: Sie ist der Versuch, eines oder mehrere Phänomene in einen Zusammenhang zu setzen und dem Ganzen einen Sinn zuzuschreiben. Es geht um die Inthronisation der starken Wörter „weil“ und „damit“ in Texten, deren Bestandteile bislang nur durch ein schwaches „und“ zusammengehalten wurden.
So betrachtet, tut der Verschwörungstheoretiker zunächst einmal etwas, das wir alle dauernd mehr oder minder unbewusst tun. Wir sind von einer Unmenge von Phänomenen und Umständen umgeben, die uns nicht darüber aufklären, was sie miteinander zu tun haben, inwiefern sie uns betreffen oder uns gar etwas mitteilen wollen. Also konstruieren wir Zusammenhänge und Bedeutungen. Zudem fragen wir uns beständig, was das alles mit uns zu tun hat und wie wir uns verhalten sollen. Wir deuten das Verhalten der Tiere, die wir jagen wollen, wir deuten die Äußerungen der Menschen, mit denen wir arbeiten oder leben wollen.
Provokativ gesagt: Wir alle sind ein bisschen Verschwörungstheoretiker. Wir gehen durch unseren Alltag und sind nicht bereit, nein!, nicht in der Lage, alles was uns widerfährt als eine Kette von Zufällen zu betrachten. Das ist auch richtig so, denn aus Zufällen lernt man nichts. Um weiterzukommen, um uns zu stärken bei der Bewältigung des Lebens, bedarf es der Wahrnehmung von Zusammenhang, Regelhaftigkeit, Gesetzmäßigkeit und Intention. Es kann sogar das Überleben fördern, wenn man sich selbst als das beabsichtigte Ziel der Phänomene in seiner Umgebung begreift. Gut, die Autofahrer (jedenfalls die meisten) wollen mich nicht überfahren, aber indem ich im Straßenverkehr so tue als ob sie das wollten, schärfe ich womöglich meine Aufmerksamkeit.
Und jetzt Corona. Eine aggressive Seuche überzieht die Welt. Ihr Ursprungsort scheint bekannt zu sein. Die Krankheit erweist sich als selektiv, sie betrifft vor allem ältere und sozial schwache Menschen. Und sie entwickelt sich in verschiedenen Ländern auf unterschiedliche Art und Weise. – Sollen wir das einen Zufall nennen?
Ich denke, es wäre wohl am besten so; jedenfalls sehr viel besser als die aggressiven Varianten der Sinnstiftung, wie sie unter anderem vom amerikanischen Präsidenten verbreitet werden. Aber andererseits hängen wir aus begreiflichen Gründen seit Wochen an den Lippen der Epidemiologen, die doch nichts anderes tun, als hinter den scheinbaren Zufälligkeiten der Seuchenausbreitung Gesetze wahrzunehmen, deren Kenntnis uns bei der Steuerung der Vorgänge hilft, das heißt auch: bei der Rettung von Menschenleben. Epidemiologen sind keine Verschwörungstheoretiker, das nun wirklich nicht, aber sie suchen nach Regelmäßigkeiten und Gesetzen.
Allerdings sind sie im Gegensatz zu den landläufigen Verschwörungstheoretiker Pragmatiker. Es geht Ihnen darum, die Grundlage für sinnvolles Handeln zu schaffen. Sie versuchen herauszufinden, was die Seuche tut, mit dem Warum befassen sie sich (hoffentlich) nicht.
Und hier liegt der gewaltige Unterschied zu den Leuten mit den Stanniolhüten. Die gehen in ihrem Denken eilig über das Was und das Wie hinaus. Es mag so scheinen, als interessierten sie sich vor allem für das Warum und Wozu, aber das ist eine Täuschung. Sie interessieren sich ausschließlich für sich selbst. Sie sind voller Angst, und ihre Angst macht, dass sie alles auf sich beziehen. Sie können nicht zulassen, dass etwas geschieht, bei dem sie selbst nicht Mittelpunkt oder Ziel sind. Mag sein, sie verbreiten globale Theorien (Bill Gates ist schuld oder die WHO), tatsächlich aber betreiben sie nur eine panische Selbstbestätigung. Ihr Lebensmotto lautet: „Man hat es auf mich abgesehen, also bin ich.“ Sie finden ihre Existenzbegründung in ihrer Rolle als Zielscheibe böser Machenschaften.
Es mag nun leicht fallen, den Verschwörungstheoretikern mit leicht verächtlicher Herablassung zu begegnen. Diese Spinner! Ich denke allerdings, man tut gut daran, den kleinen Verschwörungstheoretiker auch in sich selbst wahrzunehmen. Ich habe das getan. In meinem 1. Corona-Brief hatte ich darüber geschrieben, wie ich selbst mich von der Seuche beobachtet und (als bevorzugtes Opfer) eingeschätzt sehe. Das war bereits eine Konstruktion von Absicht und damit ein Schritt auf einem gefährlichen Weg. Aber ich habe ihn immerhin öffentlich gemacht – und damit anderen die Möglichkeit gegeben, mir den Kopf zu waschen.
Danke dafür!