Corona-Brief Nr. 8

Spüre die Macht. Autorität durch Corona?  (7. Juni 2020)

 

Wie sah bislang das Leben der politisch Verantwortlichen in unserem demokratischen Staatsgebilde aus? Sollte ich es in einem Bild darstellen, würde ich einen Menschen malen, der knietief durch Honig geht. Er hat ein Ziel, er hat Absichten, aber jeder einzelne Schritt ist schwierig, alles ist zäh und kostet eine ungeheure Menge Kraft.

Natürlich haben wir gut daran getan, nach den schrecklichen Erfahrungen mit dem Missbrauch politischer Macht in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein System zu etablieren, dass eine ständige und strenge Kontrolle der Machthaber vorsieht. Ohne zynisch sein zu wollen, würde ich sagen, dass die Demokratie weniger eine Methode ist, mit der man zuverlässig die allerbesten Lösungen findet, und mehr eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern soll, dass Einzelne oder kleine Gruppen ihren persönlichen Wahnsinn zum Schaden aller ausleben.

Für den Alltag der politisch Verantwortlichen bedeutet das allerdings, dass es sehr schwierig ist (und immer schwieriger wird), Dinge zu bewegen oder zu verändern. Die Regierungsarbeit ist ein universelles Hindernisrennen. Zusätzlich bestärkt durch die Strukturen und die Möglichkeiten unserer Mediengesellschaft, melden sich, kaum dass eine Absicht der Regierenden bekannt wird, sofort die verschiedenen Interessensgruppen lautstark zu Wort. 1968 war die „Außerparlamentarische Opposition“ noch eine Gruppe relativ weniger erkennbarer Individuen, heute bildet die gesamte Bevölkerung eine permanente APO. Doch um es noch schwieriger zu machen, ist die in sich gespalten. Sie will glückliche Tiere, chemiefreie Landwirtschaft und niedrige Lebensmittelpreise, sie will Elektroautos, aber keine Stromleitungen, sie will ein besseres Klima und preiswerte Fernreisen, sie will dies und das und jenes, aber nichts davon in ihrer Nachbarschaft.

Folgerichtig geht es in unserer praktischen Politik mehr und mehr um Kompromisse. Niemand setzt sich mehr durch, es herrscht vielmehr ein universelles Sich-Durchschlängeln, das sich dann wiederum den Vorwurf gefallen lassen muss, es sei jenes „Fortwursteln“, das Robert Musil einmal als die österreichische Staatsphilosophie vor 1914 bezeichnet hat. Womöglich sind wir schon so weit, dass nicht einmal kleine Koalitionen mehr funktionieren; immerhin werden wir wohl nicht von ungefähr seit vielen Jahren von einer großen Koalition regiert, deren Kabinettsbeschlüsse nicht die Umsetzung von Parteiprogrammen sind, sondern selbst bereits mühsam und unter großen Reibungsverlusten erzielte Kompromisse.

Und jetzt Corona. Unser aller Leben ist durch die Pandemie dramatisch verändert worden, in den allermeisten Fällen zum Schlechteren. Wir alle reden dauernd davon, und gäbe es nicht die Pflicht zum Tragen des Mundschutzes, würden wir noch mehr davon reden. Wie aber hat Corona das Leben und die Befindlichkeit der politisch Verantwortlichen verändert? Ich stelle mir vor, in zweierlei Hinsicht:

Erstens. Es gibt noch mehr Arbeit, sehr viel mehr Arbeit. Dazu die Sorge, dass sich die Resultate politischer Entscheidungen nicht mehr nur in den Statements von Interessengruppenvertretern, im Auf und Ab des Politbarometers oder in einem Shitstorm niederschlagen, sondern womöglich in erhöhten Infektionsraten und Sterbequoten. Es ist das eine, sich vorstellen zu müssen, dass Gewerkschaftler oder Unternehmer einen hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand einen Idioten (oder Schlimmeres) nennen; etwas anderes ist es, sich vorstellen zu müssen, dass infolge der Anordnung Nummer 47/2020 Menschen auf Krankenhausfluren sterben.

Zweitens. Es gibt womöglich die neue Erfahrung eines beinah unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Entscheidung, Anordnung und Ausführung. Das Infektionsschutzgesetz hat den politisch Verantwortlichen von einem Tag auf den anderen eine ungeheure Machtfülle beschert. Seit drei Monaten wird in unserem Staat in einem seit 1949 (außerhalb des Militärischen) nicht mehr bekannten Maße befohlen und gehorcht. Die aktuellen Bestimmungen reichen bis in die tiefsten Tiefen des Privatlebens. Und es mag zwar öffentlich geäußerten Widerspruch dagegen geben, aber er ist verschwindend gering, vergleicht man ihn mit dem Widerspruch, der in Vor-Corona-Zeiten gegen wesentlich weniger „invasive“ Maßnahmen an der Tagesordnung war.

Was bedeutet nun diese Erfahrung für unsere politisch Verantwortlichen? Was fühlen sie? Ich versuche, mir das vorzustellen. Ihr Leben hat sich verändert. Statt wie gewohnt monatelang händeringend nach dem größten gemeinsamen Nenner in irgendeinem Miniproblem zu suchen, den dann umgehend alle ablehnen, treffen sie jetzt nach kurzer Beratung weitreichende und existenziellen Entscheidungen, die alle akzeptieren, fast ohne zu murren. Sie hatten sich schon daran gewöhnt, für alles und jedes den Watschenaugust zu spielen, jetzt fungieren sie als Anführer, als Hoffnungsträger oder sogar als Heilsbringer. Wollte man ihnen früher überhaupt Tugenden zusprechen, so waren es noch die der Aufmerksamkeit, der politischen Korrektheit, der Bürgernähe und der Verhandlungsbereitschaft; jetzt ist wieder von Führerschaft die Rede, von entschlossenem Auftreten und Durchsetzungsfähigkeit. Unsere Gesellschaft war schon fast so weit, dass jeder der Vorsitzende seiner eigenen Partei war, jetzt hingegen scharen sich wieder deutlich mehr Wähler und die, die gerade das Sagen haben.

Corona wird vorbeigehen. (Ich hoffe das jedenfalls sehr.) Aber niemand kann jetzt schon mit Sicherheit sagen, zu welchen Routinen wir zurückkehren, in welcher allgemeinen Bewusstseinslage wir uns wiederfinden werden. Wahrscheinlich werden wir diese plötzliche Wiederauferstehung alter Strukturen von Macht und Gehorsam rasch wieder beenden. Immerhin aber wird einer ganzen Generation von politisch Verantwortlichen diese Erfahrung bleiben. Ob es sie verändert? – Ich weiß es nicht.