Corona-Brief Nr. 6

Germany’s next Topmodel by Corona (24.5.2020)

Zu den Spielen und Spielchen, die von Corona verdorben werden, gehörte am letzten Donnerstag das Finale der populären Castingshow „Germany’s next Topmodel“ (GNTM). Die Moderatorin und Jurorin Heidi Klum konnte nur per Videozuschaltung aus den USA anwesend sein, überdies musste das Finale im menschenleeren Friedrichstadt-Palast stattfinden. Der Sender Pro 7, der das Format seit 15 Jahren produziert und ausstrahlt, war damit offenbar überfordert. Es gab einen weitgehend sinnlosen Auftrieb ehemaliger Kandidatinnen, selbstgefällige Ersatzjuroren und als größten Ausweis der Unbeholfenheit tatsächlich Applaus und Lacher aus der Geräuschkonserve. Ich habe mich drei Stunden lang nach der Verkündung der Siegerin gesehnt, damit ich endlich ins Bett gehen konnte.

Aber wieso eigentlich ich? Warum sitze ich vor dem Bildschirm, wenn GNTM läuft? Seit dem Ausbruch der Privatsender Mitte der 1980er Jahre habe ich deren in Eigenregie produzierte Formate strikt gemieden. Ich war zwar seit meiner Geburt ein höchst aktiver Fernsehzuschauer, und mit meiner Privatsenderabstinenz habe ich den Anschluss an ein nicht unbedeutendes Stück aktueller Populärkultur verloren. Aber ich war und bin nun einmal nicht imstande, mehr als drei Minuten „Deutschland sucht den Superstar“, „Der Trödeltrupp“ oder „Dschungelcamp“ anzuschauen, ohne mich für alle Beteiligten in Grund und Boden zu schämen, für die Produzenten dieser Formate ebenso wie für die Menschen, die sich gegen Geld oder das Versprechen von Popularität dafür zur Verfügung stellen. Ich konnte und kann das nicht ansehen, ohne den starken Drang zu verspüren, dergleichen abschaffen zu wollen. Da das aber auf legalem Wege wahrscheinlich unmöglich ist, meide ich tunlichst Wahrnehmungen, die mich depressiv machen oder zu Gewaltfantasien stimulieren.

Es ist Corona zu verdanken, dass ich in diesem Jahr entgegen meiner bisherigen Praxis der Distanz mehr als die Hälfte der fünfzehnten Staffel von GNMT gesehen habe. Es war noch im März, als mir der (zugegeben, keineswegs originelle) Gedanke kam, ich könnte in der unfreiwillig freien Zeit, die mich erwartete, etwas im Fernsehen anschauen, das ich sonst niemals angeschaut hätte. Ein Zufall sorgte dann dafür, dass es GNTM wurde; aber ich gebe auch zu, dass der optische Content dieser Castingshow, also zwei Dutzend gut aussehende junge Frauen, eine kontinuierliche Betrachtung erleichterte.

Und jetzt weiß ich also Bescheid. Ich kenne jetzt, zumindest in einem Beispiel, was ich seit Jahrzehnten tunlichst meide. Ich habe meine Vorurteile der Medienwirklichkeit ausgesetzt. Ich bin durch dieses Format getaumelt wie einer, den man vor 35 Jahren eingefroren und gerade erst wieder aufgetaut hat. Ich habe zum ersten Mal gesehen, was für die jungen Töchter unserer Nachbarn eine Selbstverständlichkeit ist, deren Ursprung in die Zeit vor ihrer Geburt zurückreicht. Ich bin Menschen und Umständen begegnet, die mich zutiefst befremdet und meine Vorurteile außer Dienst gestellt haben, während sie für viele andere nicht nur ein Stück ihres selbstverständlichen Alltags, sondern auch ein Stück der Welt sind, in der sie sich wohl fühlen.

Ich möchte mich, was meine Eindrücke und Erkenntnisse angeht, so kurz fassen wie möglich. Deshalb wähle ich das Format des erweiterten Thesenpapiers, wenngleich mir das seit meiner Studienzeit eigentlich eher suspekt ist. Aber es hat auch seine Vorteile.

Erste These: GNTM zeigt die klassischen Merkmale der Diktatur

In diktatorischen Systemen sind Legislative, Jurisdiktion und Exekutive nicht getrennt. Das ist die Struktur der Willkür. Die Urteilenden rechtfertigen ihr Tun mit Gesetzen, die vorher nicht beschlossen und verkündet wurden, sondern eigens für den akuten Fall geschaffen werden. So auch hier. Frau Klum bewertet die Leistungen der jungen Frauen nach Kriterien, die sie ad hoc formuliert. Das ganze Format gibt sich zwar als gewissermaßen sportlicher Wettbewerb, ist aber insofern das genaue Gegenteil, als Sport eine permanente Bekräftigung von vorgängigen Regeln ist, die allen bekannt sind. In GNTM sind die Regeln identisch mit den tendenziell unvorhersehbaren Urteilen von Frau Klum.

Zweite These: GNTM betreibt Urteilsfindung als Schauprozess

In diktatorischen Systemen werden Gegner oder Abweichler nicht nur beseitigt, sondern nach Möglichkeit dazu gebracht, ihr Vergehen öffentlich als Fehler einzugestehen. Die Inquisition gewährte dem, der sich auf dem Scheiterhaufen zum rechten Glauben bekehrte, einen weniger schmerzhaften Tod; als reuiger Sünder taugte er mehr zum Erhalt des Systems. In den Szenen, in denen Frau Klum ihre Urteile verkündet (Szenen, die zur Qual der Kandidatinnen dramatisch in die Länge gezogen werden), gibt es nicht nur keinen Platz für Widerspruch, es geht überdies darum, die Kandidatinnen eine bedingungslose Selbstkritik üben zu lassen und damit die Unterwerfung unter Regeln, die sie nicht verstehen, weil sie sie nicht verstehen können können. Das ist die Art von Demütigung, die man auf Schulhöfen und an sehr viel schlimmeren Orten erfährt.

Dritte These: GNTM ist durch und durch manipulativ

Als Manipulation bezeichnet man für gewöhnlich die Einflussnahme auf das Verhalten von Menschen. Auch Pro 7 nimmt massiven Einfluss auf die jungen Kandidatinnen, nicht zuletzt, indem es sie kaserniert und zu bestimmten Verhaltensformen und Äußerungen stimuliert. Wichtiger aber ist, dass ihr Verhalten und ihre Äußerungen in großem Umfang durch Ton- und Bildaufnahmen abgeschöpft werden, so dass ein Pool von Material entsteht, aus dem am digitalen Schneidepult nach Belieben mehr oder minder plausible Kontexte konstruiert werden. Die einzelnen Folgen der Staffel entstehen auf diese Art und Weise durch eine Collage, deren Ziel es ist, neben dem „Wettbewerb“ möglichst einzelne „Geschichten“ zu erzählen, bevorzugt triviale Standardgeschichten wie die von Aufstieg und Fall, Selbstsucht und Solidarität oder Mut und Verzweiflung. Die Manipulation der Kandidatinnen geschieht also im Wesentlichen durch ihre Verwandlung in die Figuren einer Seifenoper, was den Betroffenen selbst über einen langen Zeitraum verborgen bleibt.

Vierte These: GNTM gefährdet wissentlich seine Kandidatinnen

Beim Finale am letzten Donnerstag stieg eine Kandidatin, die in den Wochen zuvor sehr nachdrücklich in der klassischen Rolle der Streberin präsentiert worden war, freiwillig aus, offenbar zur Überraschung aller Beteiligten. Sie wolle, so sagte sie in ihrem Abschlussmonolog wörtlich, kein „Futter für den Hass“ mehr sein. Ich hatte mich in den Wochen zuvor immer wieder gefragt, ob mir die junge Frau eher sympathisch oder eher unsympathisch ist, hatte aber nie eine Antwort darauf gefunden, weil ich mich nicht imstande sah, durch die Manipulationen des Formats hindurch einen real existierenden Menschen zu erkennen. Am Donnerstag aber wurde dieser Mensch für einige Sekunden kenntlich, obwohl er sich auf eigene Veranlassung in ein tief dekolletiertes Negligé gekleidet hatte, das ihn eher als anonymes Sexobjekt wirken ließ. Die junge Frau schied freiwillig aus, weil sie sich offenbar – und das ist schon ein Stück Erkenntnis – in einer lose-lose-Situation wiedergefunden hatte. Sowohl als Siegerin wie auch als Unterlegene im Finale hätte sie nur weiteres Material für das (nicht nur) mediale Mobbing geliefert, dem sie ausgesetzt war. Futter für den Hass, aufbereitet und ausgestreut von Pro 7. Freilich hatte sie übersehen, dass es aus dieser Zwickmühle, in die man sie wissentlich manövriert hatte, keinen Patentweg ins Heile und Geschützte gibt. Einmal zur Projektionsfläche böser Absichten und Instinkte aufgebaut, konnte sie nichts anderes tun, als wenigstens – um in der passenden Terminologie zu sprechen – noch ein paar Likes zu stimulieren. Die kann sie von mir zwar nicht bekommen, da ich auf den entsprechenden Plattformen nicht aktiv bin. Aber ich versichere sie hiermit einer anderen, womöglich etwas altfränkischen Reaktion, nämlich meines ehrlich empfundenen Mitleids.

Fünfte These: GNTM verrät die Emanzipation

Niemals würde ich einer jungen Frau einen Vorwurf daraus machen, dass sie nicht Kinderkrankenschwester, Kfz-Mechanikerin oder Vorstandsvorsitzende in der Stahlindustrie, sondern stattdessen Mannequin (ich hänge an diesem alten Wort) werden will. Schön zu sein, besonders für andere, ist ein Wunsch, der dem Menschen innewohnt und ohne den unser Planet noch viel jämmerlicher aussähe. Aber es ist eine bodenlose Frechheit, und mehr als das, wenn GNTM in Person von Frau Klum jungen Frauen gebetsmühlenhaft einredet, sie würden als Models ihre sogenannte Persönlichkeit (Personality) zum Ausdruck bringen, während man sie gleichzeitig Wochen und Monate lang darauf konditioniert, nicht nur ihren Körper, sondern alle ihre Lebensäußerungen dem Kommando von Tänzerinnen, Modedesignern, Kosmetikvermarktern und insbesondere dem Kommando von – durchweg männlichen! – Fotografen zu unterwerfen. Diese Perfidie tarnt sich in GNTM nahezu perfekt, indem sie sich möglichst offen auslebt! Das geht bis hin zu negativen Urteilen über Kandidatinnen, die damit begründet werden, dass sie nicht authentisch gewirkt hätten, weil sie die Kommandos des Mannes an der Kamera nicht schnell und präzise genug befolgt hätten. In GNTM heißt es permanent „Sei mal spontan!“, als sei diese Aufforderung nicht schlechthin widersinnig.

Soweit meine Wahrnehmungen und Erkenntnisse. Was meine Gefühle angeht, lässt mich mein Selbstversuch mit GNTM gespalten zurück. Einerseits schäme ich mich. Ich schäme mich für den Sender Pro 7 und seine Orgie der Manipulation, die bis hin zur körperlichen Gefährdung der Kandidatinnen geht. Ich schäme mich für Frau Klum, die in Gestalt einer attraktiven und leutseligen Eismutter dieses Format repräsentiert. Ich schäme mich für die jungen Frauen, die man – im Wortsinne – verraten und verkauft hat. Und ich schäme mich nicht am wenigsten für mich selbst, der ich durch mein Zuschauen Teil der Veranstaltung geworden bin, auch wenn ich mich (nicht zuletzt durch diesen Text) noch so sehr anstrenge, meine Distanz und meine Ablehnung zu dokumentieren.

Andererseits war es vielleicht sinnvoll, meine Welt der wohlbegründeten Vorurteile einmal zu verlassen und mich in die Welt der real existierenden Manipulationen zu begeben. Vorurteile, und mögen sie noch so zutreffend sein, wirken auf Dauer entfremdend; und Entfremdung schwächt. Vermeidungsstrategien und Schonhaltungen können die Heilung verhindern. Nicht selten ist der Schmerz besser zu ertragen als die Angst vor ihm.

Schließlich noch ein Wort zu einem Einspruch, den ich in meinem Kopf höre, während ich diesen Text schreibe. Er lautet: „Herr Spinnen, was haben Sie denn? Das ist doch ein höchst erfolgreiches Format! Millionen Zuschauer drängen sich vor den Endgeräten, und Tausende junger Frauen träumen von einer Teilnahme.“

Das stimmt. Ich antwortete darauf mit einem Zitat von Theodor W. Adorno, das ich ein bisschen verknappt habe, ohne seinen Sinn zu berühren. Es lautet: Das Publikum hat ein Recht darauf, nicht zu bekommen, was es verlangt. Mehr will ich dazu nicht sagen.