Corona-Brief Nr. 5
Geisterspiele in der Bundesliga (18.5.2020)
Der Begriff Geisterspiele für Fußballbegegnungen, zu denen keine Zuschauer mehr zugelassen sind, hat sich offenbar als alternativlos durchgesetzt. Tatsächlich war Geisterspiel bereits vor Corona eine Art Fachbegriff. Der gleichnamige Wikipedia-Artikel zitiert Belege für zuschauerlose Spiele zu Beginn des 21. Jahrhunderts, die auch damals schon so genannt wurden.
Aber ich will hier keine Spracharchäologie betreiben, sondern ein wenig Sprachphysiognomik, das heißt, ich möchte einem Wort, das momentan eine (wenngleich traurige) Karriere macht, ein wenig hinter den Vorhang gucken. Die Frage lautet: Was sagt man eigentlich, wenn man Geisterspiel sagt?
Auf den ersten Blick (besser: bei unaufmerksamem Hören) bietet das Wort keine Widerstände. Seine Grundstruktur hat Tradition: Verlassene Städte wurden immer schon als Geisterstädte bezeichnet, wahrscheinlich nach dem amerikanischen Muster ghost town. Wenn aber eine Stadt ohne Menschen eine Geisterstadt ist, dann ist folgerichtig ein Stadion ohne Zuschauer ein Geisterstadion; und die Spiele darin sind in Analogie Geisterspiele. Das ist ein bisschen schräg, weil ja nicht Geister spielen, sondern vor Geistern gespielt wird. Doch in der alltäglichen Kommunikation, die vor allem schnell und markant sein will, gehen solche Schrägheiten ungeprüft und ungestraft durch. Zudem lassen Worte, in denen wenn nicht Geist, so doch wenigstens Geister stecken, aufhorchen, und sie verbreiten sich, jetzt hätte ich fast gesagt, wie Viren.
Aber was, wenn man ein Wort, wie der große Satiriker Karl Kraus es riet, näher ansieht? Womöglich schaut es dann umso ferner zurück. Ich unternehme den Versuch.
Die Geisterstädte heißen so, weil die Abwesenheit ihrer Bewohner den späteren Besucher verunsichert und schockiert. Pompeji und Herculaneum sind Geisterstädte, weil an den Wänden noch die Rauchschatten des einstigen Lebens von dessen jähem Ende erzählen. Die aufgegebenen Goldgräberstädte in den USA sind Geisterstädte, weil die halb leeren Kaffeetassen auf den Frühstückstischen zeigen, dass das Wegbrechen der ökonomischen Basis, zum Beispiel das Versiegen einer Goldader, eine ganze Population schlagartig auflösen kann. Die deutschen Großstädte waren 1945 insofern auch Geisterstädte, als sie vollgepackt waren mit toten ebenso wie mit untoten Zeugen einer Gewaltorgie, die sie selbst initiiert hatten.
Was genau aber waren am letzten Samstag die Fußballstadien in Deutschland? Zunächst einmal waren sie leer, weil ihre regelmäßigen Bewohner durch die Corona-Bestimmungen vertrieben waren. Von daher trifft der Ausdruck. Aber was genau fehlte? Was genau war nur noch in seiner schaurigen Abwesenheit, nämlich als Geist, wahrzunehmen?
Meine Antwort darauf lautet: Es war die Verkörperung all dessen, was der Profifußball als Massenunterhaltung im Wesentlichen produziert und zu mittlerweile horrenden Summen verkauft. Es fehlten nämlich Emotion, Bedeutung, Geschichte und Mythos. Kicken ist keine große Leistung; das kann beinahe jeder. Gute Geschichten zu erzählen – darin liegt die wertvolle Kunst.
Das sind starke Worte, aber ich stehe dazu. Fußballspiele ohne die große Kulisse sind meines Erachtens auf eine beschämend banale Art und Weise eben dies und nur dies: Fußballspiele, tendenziell auswechselbares Gekicke. Denn das real existierende Publikum ist nicht bloß Kulisse; es leistet vielmehr die mit großer Sorgfalt und riesigem Engagement inszenierte, ja choreografierte Bedeutungstiftung dessen, was auf dem Rasen passiert. Das beste Beispiel dafür wurde gleich am ersten Geisterspieltag präsentiert. Das sogenannte „Revierderby“, also das wiederkehrende Fußballspiel zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund, erschien erstmals als ein Fußballspiel wie viele andere. Es erwies sich als ausdrucksschwach bis zur Unkenntlichkeit, denn seine Emotionalisierung und Sinnstiftung wurden zwar versuchsweise von den Medien substituiert und verbreitet – aber im Wortsinne verkörpert werden sie nur durch die Fans im Stadion. Und die fehlten.
Der Fußball ist, wie wir alle wissen, in den letzten Jahren zu einem enorm erfolgreichen Geschäft geworden. Manager wie der kürzlich abgetretene Uli Hoeneß arbeiten intensiv an der Qualitätssteigerung ihres Produktes, noch viel mehr allerdings an seinem window dressing und seinem Marketing, man könnte auch altfränkisch sagen, an der Eigenwerbung zu Zwecken der Profitsteigerung. Dabei entstand allmählich der (richtige) Eindruck, dass die Zuschauer im Stadion als Einnahmequelle nicht mehr so wahnsinnig relevant sind. Man lässt sie womöglich nur aus folkloristischen Gründen für ein paar kleine Geldscheine ins Stadion, während die internationale Medienvermarktung der Spiele dreistellige Millionenbeträge einbringt.
Aber das war ein Irrtum, der jetzt womöglich durch Corona aufgedeckt wird. Die permanente Bedeutungsstiftung, die optisch und akustisch von 50.000 Zuschauern im Stadion geleistet wird, ist nämlich absolut unverzichtbar für das Produkt Fußball! Emotion, Geschichte und Mythos sind ohne sie eine bloße Behauptung, und eine schwache überdies. Bedauernswert erschienen mir am Wochenende die Kommentatorinnen und Kommentatoren, die jetzt auf eigene Faust und ohne die Deckung der 50.000 dem Spiel die Bedeutung unterlegen mussten. Und geradezu jämmerlich erschienen mir diejenigen unter ihnen, die tatsächlich versuchten, die Abwesenheit der 50.000 durch ihre eigenen Emotionen zu ersetzen. Das klang so abstoßend wie alles verzweifelte Schönreden.
Geisterspiele ist also ein treffendes Wort. Denn Geisterspiele sind Fußballspiele nicht allein vor keinen Zuschauern, sondern vielmehr vor den Geistern derer, die abwesend sind. Und diese Geister mögen unsichtbar sein, aber sie tun ebenso unhörbar wie lautstark, was Geister so gerne tun: Sie gemahnen an die Untaten derer, die sie zu Geistern gemacht haben. In diesem Fall gemahnen sie an die Untaten derer, die geglaubt haben, sie könnten den Fußball zugunsten seiner gewinnbringenden Verbreitung quasi vollständig digitalisieren. Die Geister der abwesenden Zuschauer prangern, nicht durch Kettenrasseln oder Trommelschlagen, sondern durch eine wahrhaft gespenstische Stille, eine Untat an, der wir alle zugesehen und zu der wir via Bezahlfernsehen unser Scherflein beigetragen haben. Aus dem Fußball wurde eine Art gut verkäuflicher scripted reality gemacht, in der die real existierenden Zuschauer als Statisten verschlissen wurden, die sich selbst choreografierten und überdies so naiv waren, für ihre Leistung auch noch zu bezahlen. Eine einzige Lüge!
Die gruseligen Geisterspiele aber decken jetzt die Wahrheit auf. Der Fußball selbst ist ein einfach strukturiertes und in seiner Schlichtheit gelegentlich durchaus gut anzuschauendes, doch über weite Strecken auch banales Spiel. Ohne die Emotionalisierung und die Interpretation durch die Zuschauer läuft er Gefahr, nicht sehr viel attraktiver zu sein als Stabhochsprung oder Hürdenlauf. Fußball ist nicht etwas Grandioses an und für sich, sondern etwas für Menschen, die ihn sehen und beurteilen. Es kommt, wie immer, auf individuelle und vor allem auf kollektive Interpretationen an. Und die sind frei. In den USA und anderswo hat man sich (zur europäischen Verwunderung) kollektiv für andere Ballsportarten als bevorzugte Objekte der Massenbegeisterung entschieden.
Die Fußballmanager in Europa aber haben das offenbar vergessen. Sie haben geglaubt, das Vereinsmarketing werde in Zusammenarbeit mit den Sendern, die ihre teuer eingekauften Produkte verständlicherweise in den Himmel jubeln, den Fußball zu einem Produkt per se machen, dessen Wertbestimmung der Produzent selbst in der Hand hat. Er muss nur irgendeinem überdurchschnittlich talentierten Nachwuchsstürmer ein paar Millionen an Honorar zahlen, schon brodelt es, und er holt die Ausgabe beim Verkauf der Übertragungsrechte doppelt und dreifach wieder herein.
Aber wehe! Man hat die Rechnung ohne die gemacht, die das Produkt erst zu dem machen, was es ist, zu einem Mythos.
Als gebürtiger Mönchengladbacher weiß ich Bescheid. 1970 war ich unter denen, die den Borussenspielern bei ihrer Fahrt durch die Innenstadt anlässlich der ersten Meisterschaft Spalier standen. Mag sein, es ging um Fußball. Aber im Wesentlichen ging es um Heldentum, es ging darum, dass die „Fohlen“ einer bis dahin weitestgehend unbedeutenden Stadt zu internationaler Geltung verhalfen. Wir wurden lauter Kennedys: „Ich bin ein Gladbacher.“ Das prägt! Seit dem Aufstiegsjahr 1965 hänge ich am Fußball wie an einer Nadel. Aber die Geisterspiele am letzten Samstag haben mich geradezu abgestoßen. Der verschämte Schwenk über die leeren Ränge in den Stadien erinnerte an Einstellungen aus den postapokalyptischen Hollywood-Filmen; die hallenden Stimmen von Spielern und Trainern klangen wie die verzweifelten Klagerufe von Geistern in einem verlassenen Haus. Das Schlimmste waren: vielversprechende Angriffsszenen ganz ohne die hörbar aufwallende Begeisterung. Und das Allerschlimmste waren: Tore in eisigem Schweigen. Ich weiß jetzt endgültig, was Fußball ist: Fußball, das bin ich. Und wenn ich und meinesgleichen nicht mehr ins Stadion dürfen, wird der Fußball unsichtbar werden. Wie ein Geist.