Corona-Brief Nr. 4

Schicksalssatt. Das Leben meiner Großeltern (9.5.2020)

Meine beiden Großelternpaare wurden zwischen 1893 und 1897 geboren. Beide stammten sie aus kinderreichen Familien und aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Über ihre Lebenswege bestimmten weniger sie selbst; vielmehr wurden sie vom Strom der Zeitläufte mitgenommen. Ihr Schicksal war die Politik, wie es Napoleon im Jahr 1808 vor dem Geheimrat Goethe verkündet hatte.

Sie lebten gewissermaßen parallele Leben. Im Kaiserreich geboren, mit einer dürftigen Schul- und Ausbildung versehen, wurden die Männer 1914 in den Krieg geschickt. Als sie den überlebt hatten, brach der Staat ihrer Jugend zusammen. Haben Sie die neuen demokratischen Freiheiten genießen können?

Ich fürchte, nein. Die wirtschaftlichen Bedingungen waren für Menschen ihrer Schicht ab jetzt eher noch schlechter. Ein Großvater zog vom Dorf in die Stadt, um Arbeit zu finden, der andere wechselte den Beruf; der Vater einer Großmutter verlor sein Geschäft, und die Familie verarmte. Sie heirateten und bekamen Kinder. Mein Vater und meine Mutter wurden auf dem Höhepunkt der Inflation von 1923 geboren. 6 Jahre später begann die große Wirtschaftskrise, 10 Jahre später versank die unglückliche Weimarer Demokratie. Haben meine Großeltern den Nazi-Staat begrüßt?

Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie weiter am Existenzminimum lebten und ihre Kinder eine fast schon panische Sparsamkeit lehrten. 1939 waren die Männer zu alt, um am neuen Krieg teilzunehmen, mussten aber jahrelang die vielfältigen Einschränkungen hinnehmen und zudem um das Leben ihrer Kinder und Schwiegerkinder an der Front bangen. Ab 1941 saßen sie in den Kellern ihrer Häuser und hofften, dass die nicht über ihren Köpfen zusammenstürzten. Haben Sie das Kriegsende 1945 gefeiert?

Ich kann es mir kaum vorstellen. Sie waren damals zwischen 48 und 52 Jahre alt, heute kein Alter, wie man so sagt, aber meine Großeltern hatte ihr Leben abgeschliffen und aufgebraucht. Außerdem folgten auf die Befreiung mehrere Jahre eines chaotischen Alltags, in dem es noch viel ärmlicher zuging, als sie es zuvor gewohnt waren. Immerhin waren sie bei der Gründung der Bundesrepublik und der Währungsreform erst Mitte 50 und durften noch je 10 Jahre ihren bescheidenen Beitrag zum Aufstieg des inzwischen vierten Staates in ihrem Leben leisten. Der eine Großvater wurde nur 70 Jahre alt, die anderen drei starben mit 80. Mit welchem Gefühl mögen sie alt geworden sein? Mit dem Gefühl, es habe sich schlimmer gebeutelt als andere zuvor? Man könnte es ihnen nicht verdenken. Oder doch mit dem Gefühl, glücklich Überlebende zu sein?

Und nun ich, das heißt, meine bundesrepublikanische Babyboomer-Generation. Seit unserer Geburt schien sich die Weltgeschichte in sicherer Entfernung von uns abzuspielen. Gelegentlich winkte oder drohte sie herüber; während des Jugoslawienkrieges konnte ich von Klagenfurt aus die Artillerie hören. Aber dass die Politik unser Schicksal sei, das wollten wir so nicht mehr stehenlassen – oder nicht wahrhaben. Eher schon schauten wir furchtsam auf die Ökonomie als die Macht, die uns regiert. Die Rezession Ende der sechziger Jahre, die erste Ölkrise 1973, die finanzielle Belastung durch die Wiedervereinigung 1989, der Börsenschock nach Nine Eleven, der Bankenkrach von 2008 – das waren für uns westdeutsche Babyboomer womöglich die prägenderen Stationen unserer Lebensgeschichte.

Und jetzt Corona. Corona ist kein Krieg und keine Hungersnot, aber es löst eine enorme Wirtschaftskrise aus – und es ist ein Ereignis, das wie Krieg und Hungersnot große Teile der Bevölkerung über Ländergrenzen hinweg betrifft. Corona ist in meinem Leben, und sicher nicht nur in meinem, das erste Ereignis, das denen ähnelt, von denen das Leben meiner Großeltern immer wieder bestimmt wurde.

Wie fühlt sich das an? Natürlich unmittelbar schrecklich; ich muss die vielen Gründe dafür nicht aufzählen. Doch es kommt noch ein spezielles Befremden hinzu. Wenigstens für eine Weile steigt der Grad des Ähnlichen unter meinen Mitmenschen, während der Grad der Differenz abnimmt. Eine Bewusstseinslage, die bestimmt wurde vom Wettbewerb aller gegen alle, ändert sich – vielleicht nicht stark und dauerhaft, aber merkbar – zu einer Bewusstseinslage, die bestimmt wird vom Kampf aller gegen die eine Bedrohung.

Meinen Großeltern war das bekannt. Der allgemeine Kampf gegen die Armut, der massenhaft erzwungene Kampf gegen verordnete Feinde, der verbreitete Kampf ums Überleben, diese Massenphänomene haben ihr ganzes Leben geprägt. Wenn sie scheiterten, lag das oft genug an allgemeinen Umständen, für ihre seltenen Erfolge galt Ähnliches. Damit verglichen ist mir mein Leben – nicht immer, aber oft genug – als das Leben eines Einzelkämpfers erschienen, der mit allem um sich herum in Konkurrenz steht. Schön war das, wenn mir etwas gelang, dann gehörte der Lorbeer mir alleine. Unschön war es häufiger; denn wenn ich scheiterte, trug ich alleine daran die Schuld.

Ich bitte inständig, mich nicht misszuverstehen. Ich will an Corona nun wirklich keine „guten Seiten“ finden! Ich bin äußerst skeptisch gegenüber dem Reden von der Chance, die in der Krise steckt. Gerne hätte ich mein Leben ohne die Erfahrung einer universellen Katastrophe zu Ende gelebt. Jetzt aber habe ich diese Erfahrung. Ich weiß noch nicht, was sie bewirken wird. Aber ich werde es, hoffentlich, erleben.