Corona-Brief Nr. 42
Unter Unschuldslämmern. Bericht aus einer Hausarztpraxis (12.4.2021)
Gestern haben die Impfungen in unserer Praxis begonnen. Das ist schön, aber um die ans Laufen zu bekommen, müssen wir eine Menge Aufwand betreiben. Zur Erinnerung: Die Impfzentren bekommen ihre Patienten bereits vorsortiert, quasi mundgerecht gemeldet, und warten dann nur noch darauf, dass diese auch tatsächlich erscheinen. Anders in unserer Praxis: Wir „kennen“ wir ja unsere Patienten. Als Dank für diesen Wissensvorsprung „darf“ dann unser Mini-Team die Gefährdetsten unter ihnen in einem zeitraubenden Auswahlverfahren aus einer langen Liste selber nach bestem Wissen und Gewissen heraussuchen, um dann allerdings beim Anruf häufig festzustellen, dass diese Patienten bereits in einem Impfzentren geimpft wurden oder dort bereits einen Termin haben. Offensichtlich funktioniert die Nummer mit den Elfen bei weitem nicht so schlecht, wie uns gerne weisgemacht wird.
Es kostet uns jedes Mal mehrere Stunden, das in mühevoller Anrufarbeit selbst herauszufinden, denn im Gegensatz zu den Impfzentren, wo ja die Patienten selber anrufen, brauchen wir manchmal ein Dutzend Anrufversuche, bis die teils nicht mehr ganz so mobilen Patienten endlich erreicht werden. Und bei den mobileren ist es ja normal, wenn sie zum Einkaufen oder für einen Spaziergang außer Hauses sind. Natürlich haben wir auch eine Liste mit Impfwünschen unserer Patienten. Aber diejenigen, die sich aktiv auf diese Liste setzen lassen sind, in der Mehrzahl noch gar nicht dran.
Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo die Leute kommen, geimpft werden und gleich wieder gehen, betreibt unsere frei flottierende Bürokratitis den üblichen bundesdeutschen Bürokratieoverkill. Natürlich geschieht das nicht zuletzt unter dem Druck der medialen Kontrolle. Einerseits will der deutsche Hinterherweißichallesbesser-Journalismus eine superschnelle Impfung wie in anderen Ländern, andererseits besteht der gleiche Hinterherweißichallesbesser-Journalismus auf einer brutalen Überprüferitis, damit nur ja alles zu 100% sicher ist (was außer dem Tod auf diesem Planeten gar nichts ist). Also kommt es zu Verfahren, die gar nicht gründlich genug sein können und daher – Überraschung! – viel Zeit brauchen. Schnelligkeit und Sicherheit: Beides gleichzeitig schließt sich zwangsläufig aus, aber auch die Wiederholung eines solchen Gemeinplatzes verhindert nicht zuverlässig eine bodenlos dumme Berichterstattung.
Der gleiche Hinterherweißichallesbesser-Journalismus fordert eine hypersoziale und ländergerechte Verteilung der Impfstoffe und lobt im gleichen Moment die erfolgreichen Impfländer über den grünen Klee, die aber diesbezüglich ausnahmslos maximal egoistisch sind und gar nichts teilen. Tja, was denn nun bitte? Engelchen oder Teufelchen – beides gleichzeitig geht nicht!
Ich habe den Eindruck, dass im Rahmen des Wahlkampfs jegliche Aktion maximal schlecht geredet wird, nur um in jedem Fall jemanden schlecht aussehen zu lassen, wobei eine unnötig große Unsicherheit und Unzufriedenheit verbreitet wird. Offensichtlich geht es mehr um parteipolitische Agitation als um Journalismus. Die Hoffnung auf eine auch nur annähernd neutrale, sachgerechte und vor allem gut recherchierte Berichterstattung habe ich schon längst aufgegeben, ich suche nur noch nach den wenigen echten Informationen zwischen all dem Gerede.
Zurück in unsere Praxis. In den Impfzentren ist der Organisationsaufwand auf Dutzende Leute verteilt, dagegen müssen wir neben dem normalen Betrieb, der uneingeschränkt weitergeht, mit minimalem Personal eine gleichartige Struktur aufbauen, die genauso gut funktionieren muss. In den Zentren muss sich das Personal aber den lieben langen Tag um sonst gar nichts kümmern. Daran denkt in dem ganzen Blabla anscheinend niemand.
Immerhin sieht man an jetzt über 15 Millionen Impfungen, dass es in den Impfzentren bei weitem nicht so schlecht läuft, wie das der Mäkel- und Vorwurfsjournalismus ständig rumposaunt. Und wie ich gerade höre, zieht die Geschwindigkeit der Impfungen weiter an – geht doch!
Zusätzlich zu unserer Arbeit werden wir jetzt massenhaft mit Impf-Anfragen überhäuft, zu denen wir kein bisschen mehr Informationen haben, als ohnehin schon überall gut zugänglich publiziert ist. Die Leute verhalten sich aber, als gäbe es exklusiv für Hausärzte irgendwelche okkulten Quellen des Wissens, von denen sonst keiner weiß, und damit werden unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch noch sinnlos blockiert, denn wir haben mit normalen Krankheiten und ihrer Behandlung eh schon alle Hände voll zu tun. Eine Hausarztpraxis ist schließlich kein Callcenter.
Überdies verbreitet der Sensationsjournalismus jetzt die Mär vom neuerdings beliebig verfügbaren Impfplatz, obwohl er wissen müsste, dass durch das Impfen in den Hausarztpraxen nicht eine einzige zusätzliche Impfdosis vom Himmel fällt. Solche Desinformation führt allerdings zwangsläufig zu Unzufriedenheit und weiterem Politikbashing. Die einfache Wahrheit, dass die Länge der Impfkampagne im Wesentlichen vom Vorhandensein des Impfstoffes abhängt, ist offenbar schwer zu verbreiten. Warum aber der Bevölkerung weismachen, dass bei einer Verteilung der Impfdosen auf viele Impfzentren und Ärzte mehr Menschen geimpft werden können? Rein rechnerisch betrachtet ist das Unsinn. Die vorhandene Menge an Impfstoff bleibt selbstverständlich gleich. Man könnte ja sonst auch sein Geld auf viele kleine Häufchen verteilen in dem Glauben, es werde sich auf diese Art und Weise gar wundersam vermehren. Ich werde das vielleicht sogar einmal versuchen, aber ich fürchte, das letzte Mal hat das mit dieser Form der Vermehrung vor 2000 Jahren am See Genezareth funktioniert.
Einen eindeutigen Vorteil hat das Impfen in unserer Praxis jetzt allerdings. Ich habe nämlich die Hoffnung, dass wir uns selbst und unser Personal demnächst auch impfen können. Theoretisch durften wir das schon seit einiger Zeit, aber daraus ist bislang nichts geworden, auch weil die wenigen Impfangebote der Zentren für Ärzte und Praxispersonal schneller vergeben waren, als man schauen konnte.
Dass wir selbst uns schützen, wird auch dringend nötig, weil wir ständig inmitten von Menschen stehen, die sich nicht im Geringsten um AHA-Regeln kümmern und damit alle Bemühungen der Politik ad absurdum führen. Ich fürchte, es sind die gleichen Menschen, die, wenn es schlecht läuft und die Coronazahlen steigen, die Politik dafür verantwortlich machen. Dabei haben aber alle einzelnen Bürger überall und auch bei sich Zuhause die Pflicht und Verantwortung, sich entsprechend zu verhalten. Aber es bleibt ein allzu beliebtes Spiel, diese Eigenverantwortung auf andere abzuschieben. Würden sich wirklich alle an die Regeln halten, dann würden die veranlassten Maßnahmen erheblich besser funktionieren und man bräuchte nicht alle paar Wochen eine neue „Notbremse“.
Normalerweise sagen Patienten, die vermuten, sich angesteckt zu haben, oder gar schon Symptome zeigen, das klar und deutlich. Sie kommen erst gar nicht zu uns herein, sondern werden vor der Tür an der frischen Luft getestet und gefährden dadurch niemanden in der Praxis. Aber es geht – leider! – auch anders. Man frage mich bitte nicht, wie viele Leute sich in ihrem Privatbereich ohne Maske und Abstand treffen! Und ein paar Tage später stehen sie dann wie die Unschuldslämmchen mitten in unserer Praxis, lächeln treudoof, wissen von gar nichts Schlimmem, das sie getan haben könnten, und fragen nach einem Schnelltest. Und wie überrascht sind sie dann, dass sie den tatsächlich gleich machen können, und wie viel überraschender noch, dass sie – O Wunder! – ein bisschen positiv sind. Wie kommt das denn? Dabei haben sie gerade mit voller Rücksichtslosigkeit das ganze Praxispersonal in Gefahr gebracht. Ich sage das nicht gern, aber es ist die traurige Wirklichkeit! Und ich bin mir vollkommen sicher, dass die Unschuldslämmchen ganz genau wussten, was sie getan hatten – und dass sie es in Kauf genommen hatten.
Manche von ihnen haben tatsächlich noch die Unverfrorenheit, sauer zu reagieren, wenn wir Ihnen sagen, sie müssten nach einem positiven Befund für die nächsten zwei Wochen Quarantäne halten. Letztens meinte eines der Lämmchen sogar, seine Oma habe doch schon ihr Leben gelebt, während es selbst noch so jung sei und ein Recht auf Party habe. – Da war ich dann wirklich sprachlos.
Wenn ich mir die Berichte von polizeilich gestoppten Partys anschaue, dann weiß ich genau, dass es die vom hohen Norden bis in den tiefsten Süden quer durch das ganze Land gibt – überall! Und deshalb können Politiker beschließen und verkünden, was sie wollen – letztlich ist es fast egal, weil keine Maßnahme zur Regulierung des öffentlichen Lebens bei Abertausenden privater Treffen wirklich effektiv sein kann.
Gleiches gilt auch für die Tests. Testen, testen, testen! Aber wer lässt sich denn freiwillig testen? Das sind nach unserer Erfahrung vor allem diejenigen Menschen, die sich von Berufs wegen oder aus Sorge um zu pflegende Personen oder Großeltern, Enkelkinder etc. derart verantwortungsvoll verhalten. Dazu kommen noch diejenigen, die ihrem Körper und ihrer Gesundheit immer schon große Aufmerksamkeit geschenkt haben, Menschen, die sensibel auf mögliche Krankheitssymptome reagieren. Sorry, aber ich fürchte, es wird im Großen und Ganzen vor allem eine Gruppe geprüft, deren Verhalten sowieso schon von Eigenverantwortung geprägt ist. Weniger oder gar nicht erreicht werden dagegen diejenigen, die das wesentlich größere Gefahrenpotenzial darstellen. Die Testkampagne ist gut gemeint und gut gedacht, aber solange sie auf Freiwilligkeit setzt, werden wichtige Zielgruppen nicht erreicht.
Außerdem: Egal, ob freiwillig oder nicht, stellen Tests ja immer nur eine Momentaufnahme dar. Bereits einen Tag später kann die negativ getestete Person bereits positiv sein, wiegt sich aber in einer manchmal sehr trügerischen Sicherheit, statt sich weiter an die AHA-Regeln zu halten. Ich habe für Kontakte, Party und Spaß sehr viel Verständnis, denn es sind zutiefst menschliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen, die einen wesentlichen und wundervollen Teil unseres Lebens ausmachen. Aber Rechte bedeuten gleichzeitig auch Pflichten: nämlich uns selbst und andere zu schützen. Die Pflichten aber vergessen wir nur zu gerne.
Bei uns heißt es, insbesondere jetzt im Wahlkampf, immer nur, die Politiker seien schuld, aber tatsächlich liegt ein Großteil der Verantwortung bei jedem Einzelnen. Bei jedem neuen Lockdown wird der Schuldige in Berlin gesucht. Es ist ja so bequem, immer andere verantwortlich zu machen, statt mit einem kritischen Blick in den Spiegel zu schauen. Leider ist dagegen wenig zu machen, denn eine totale Überwachung in Form eines omnipräsenten Polizeistaates will nun ganz sicher auch keiner.