Corona-Brief Nr. 29
Zooooooom! (8.12.2020)
Eigentlich bin ich ja ein „digital native“. Immerhin schreibe ich seit 1985 mit einem Textverarbeitungsprogramm; damals konnte ich mich geradezu als Pionier begreifen. Und natürlich habe ich alle Neuerungen digitaler Kommunikation „zeitnah“ in mein Leben aufgenommen: SMS, Internet, E-Mail, WhatsApp etc. Seit fast fünf Jahren benutze ich zum „Schreiben“ meiner Texte die digitale Spracherkennung, die ich wirklich nicht mehr missen möchte.
Trotzdem bin ich kein „digital native“! Noch immer, und wahrscheinlich bis ans Ende meiner Tage, betrachte ich das Allermeiste von dem, was in und über die digitalen Medien passiert, als einen Ersatz für die entsprechenden Analogvarianten. Auf jeden neuen digitalen Trend reagiere ich eher reserviert, und um so manches drücke ich mich herum, zum Beispiel um Zoom, Skype und dergleichen. Irgendwie nicht mein Ding.
Aber jetzt ist Corona, und ich nehme an digitalen Meetings teil. Die Seuche hat mich dazu gezwungen. Die Mitglieder des Clubs, in dem ich Mitglied bin, treffen sich nur noch bei Zoom Meetings. Ich bin dabei, aber ich muss es noch lernen.
Zunächst muss ich lernen, mich nicht zu sehr auf die Hintergründe zu konzentrieren, vor denen die Zoomisten erscheinen. Zu sehen sind da unter anderem Lampen, Teile von Möbeln der verschiedensten Stilrichtungen, interessante Wanduhren und noch interessantere Bücherwände, davon manche mit der Anmutung von strapazierten Arbeitsbibliotheken, manche mit dem Anschein wohlverwahrter Leseschätze. Auch gibt es diverse Gegenstände auf Schreibtischen, manche nüchtern sachdienlich, andere offenbar emotional aufgeladen usw. usw.
Das alles erscheint mir, mag es auch in der Sache noch so banal sein, höchst interessant, besser gesagt: viel zu interessant. Der Blick durch das Zoomfenster in fremde Wohn- oder Arbeitszimmer kommt mir vor wie der Blick des einsamen nächtlichen Passanten in ein erleuchtetes Zimmer: ein unerlaubtes Eindringen, eine Grenzüberschreitung, die die Fantasie in Gang setzt. In meinem ersten Roman „Langer Samstag“ aus dem Jahr 1995 habe ich die Hauptfigur darüber fantasieren lassen, was geschähe, wenn sie die Lizenz besäße, die Wohnungen, die zu den erleuchteten Fenstern gehören, betreten zu dürfen. Diese spezielle Mischung aus Grenzverletzung, Scheu und Neugier, die mich damals zu der Textpassage animierte, spüre ich jetzt wieder bei den Zoommeetings. Und das darf natürlich nicht sein, ich muss mich auf anderes konzentrieren.
Manchmal ist übrigens hinter dem Kopf des Zoomisten auch gar nichts zu sehen, beziehungsweise eine ganze Menge: zum Beispiel die Skyline von Manhattan, die Golden Gate Bridge, ein Alpenpanorama oder ein Sonnenuntergang hinter dem Hafenbecken. Die sind natürlich digital dahin gezaubert und sehen so lange großartig, nämlich uninteressant aus, wie sie nicht an der Frisur des Zoomisten herumknabbern oder seinen Kopf mit einem blinkenden Heiligenschein umgeben.
Viel zu viel Interesse wende ich auch an meine eigene Erscheinung im betreffenden Kästchen des (adventlichen) Zoomkalenders. Zunächst einmal muss ich mir dringend abgewöhnen, davon fasziniert zu sein, dass, wenn ich die rechte Hand hebe, mein Zoomabbild das im Gegensatz zu meinem Spiegelbild auch tut. Zumal solche Spielereien fälschlicherweise als Wortmeldung aufgefasst werden können. Darüber hinaus sollte ich unbedingt verinnerlichen, dass das Zoommeeting nicht der geeignete Zeitpunkt ist, Kamerawinkel, Ausleuchtung, Kleidung und Hintergrund zu optimieren. Ich sollte es dabei belassen, eindeutig diskriminierende und/oder peinliche Gegenstände diskret aus dem Blickfeld verschwinden zu lassen, als da zum Beispiel (teilweise coronabedingt) erscheinen: leere Pizzakartons, leere Kaffeetassen, seichte Unterhaltungslektüre, leere Bierflaschen und aus schierer Langeweile entstandene jahreszeitbedingte Basteleien (Kastanien plus Streichhölzer).
Womit ich beim Thema Kleidung wäre. Hoffentlich realisiere ich bald, dass es bereits genügt, sich ein frisches Hemd anzuziehen, um im Zoombild einen guten Eindruck zu machen. Selbst wenn nur lässig über der Jogginghose getragen, wirkt es erheblich besser als das Schlafanzugoberteil, mit dem der coronabedingt internierte freischaffende Künstler allmählich zu verwachsen droht.
Wichtig ist auch, dass ich mir abgewöhnen muss, die technischen Schwierigkeiten der anderen Zoomisten wahrzunehmen oder gar als ärgerlich zu empfinden. Ich weiß schließlich selbst, wie viel zielloses Geklicke es mich anfangs gekostet hat, bis ich endlich mit Bild und Ton „drin“ war. Daher gilt allergrößte Nachsicht denen, die sich noch in diesem Stadium befinden, dabei aber bedauerlicherweise ihr Gerät so geschaltet haben, dass man ihnen beim Nicht-Bescheid-Wissen und beim ziellosen Geklicke zusehen kann.
Ferner muss ich daran arbeiten, Fluchtimpulse zu unterdrücken. In jenen analogen Zeiten, denen Corona ein (vorläufiges?) Ende gemacht hat, hatte man als Teilnehmer an gesellschaftlichen Veranstaltungen in der Regel seinen Körper dabei. Und weil es auffällig und peinlich und grob unhöflich ist, diesen Körper, sagen wir: während eines Vortrags über ein nur mäßig interessierendes Thema aus dem Saal zu schaffen, unterließ man es und wartete das Ende des Vortrags ab. Bei bloß digitaler Anwesenheit aber vergrößert sich der Fluchtimpuls; zum plötzlichen Verschwinden bedarf es ja nur noch eines Klicks, der im Nachhinein mit den allgegenwärtigen technischen Problemen erklärt werden kann, während die Körperselbstbeseitigung immer umständlich erläutert und nie so recht entschuldigt werden konnte.
Ach, auf meiner to-zoom-Liste stehen noch etliche weitere Punkte, ich will es aber bei einem letzten belassen: Wie lerne ich, den Umstand zu ertragen, dass ich bei einer eigenen Wortmeldung sogleich deren digitalisierte Fassung vor Augen habe? Ich bin Schriftsteller, kein Schauspieler. Von meinen Auftritten gibt es in der Regel keine Filmaufnahmen, und die, die es gibt, habe ich mir mit Bedacht nie angesehen, um nicht Gefahr zu laufen, meine „Performance“ verbessern zu wollen. Schauspieler machen so etwas, aber auch Schauspieler machen es nach ihrem Auftritt, nicht währenddessen! Wie aber bekommt man es hin, frei und natürlich sprechen zu wollen, während das Egoäffchen im Zoombild einem jeden Laut und jede Geste nachmacht?
Einfach das eigene Bild abschalten? Und dann an den allesamt nicht auf mich, sondern auf ihre Monitorkamera gerichteten Blicken der anderen Zoomisten erkennen, ob man überhaupt noch da ist? Klingt furchtbar.
Aber ich werde das alles noch lernen.