Corona-Brief Nr. 28

Weihnachten 2035 (1.12.2020)

Es ist der 25. Dezember, kurz vor der sogenannten Altbescherung. So nennen die vier Enkelinnen und Enkel des Schriftstellers S. den rituellen Weihnachtsbesuch bei ihren Großeltern. Vorletztes Jahr war es nicht dazu gekommen, weil die Söhne von S. mitsamt ihren Familien in irgendwelchen Ländern weit weg weilten und eine Reise über die Feiertage ein bisschen arg ins Geld gegangen wäre. Nur zu verständlich. Dennoch zählen S. und seine Frau seitdem die Altbescherungen, die ihnen hoffentlich noch bevorstehen. Es gibt eine pessimistische Rechnung, deren Ergebnis sie nie laut aussprechen, und eine optimistische, an deren Ergebnis sie sich festhalten.

Die Vier warten, wie sie es schon als kleine Kinder getan haben, im Gästezimmer und im Arbeitszimmer des Großvaters, wo die beiden Familien ihre provisorische Bleibe genommen haben und wo es mehr nach dem Basislager einer Mount Everest Besteigung als nach einem Familienbesuch aussieht. Miranda, dreizehn und die älteste der Vier, hat lange orangerote Haare, die ihr in kleinen Locken über die Schultern fallen. Wären nicht einige wenige Sommersprossen über ihre leicht gebogene Nase verteilt, könnte man sie für eine lebensgroße und unbezahlbare Porzellanpuppe halten.

„Er wird es wieder tun“ zu, sagt sie. „Wollen wir wetten?“

Die drei Jungs, ihr jüngerer Bruder und ihre beiden Cousins, verdrehen asynchron die Augen. „Never!“, sagen sie, beinahe im Chor.

„Ich kann das echt nicht mehr hören“, sagt Miranda. Nicht ganz passend zu ihrem engelsgleichen Aussehen hat sie bisweilen etwas Unleidliches an sich. Geduld und Nachsicht sind nicht ihre Stärken.

„Ich kann’s schon hören“, sagt sie, und dann bemüht sie sich, nicht ganz ohne Erfolg, den Tonfall ihres Großvaters nachzuahmen. „Kinder, ich muss euch mal von dem schrecklichen Weihnachten 2020 erzählen. Ho ho, ob ihr’s glaubt oder nicht: Damals ist Weihnachten so gut wie ausgefallen. Keine Weihnachtsmärkte, alle Geschäfte geschlossen, und ein jeder saß einsam unter seinem traurigen Baum und telefonierte mit seinen Lieben, die er nicht sehen durfte. Das war eine schwere Zeit.“

„Die große“ – „Corona“ – „Pandemie“, sagen der Bruder und die Cousins im Stil von Tick, Trick und Track.

„Genau.“ Miranda steht auf und wölbt sich in der Mitte etwas vor, um Großvaters Bauch zu simulieren, was ihr nun aber gar nicht gelingt. Vielmehr sieht sie aus wie ein lebendiges Fragezeichen, zumindest von der Seite betrachtet. Und wieder im Bass: „Wer das erlebt hat, der wird sich ewig dran erinnern. Wie haben Oma und ich um eure Papas gefürchtet, die damals im wilden Berlin lebten, der Heimat von Querdenkern und Coronaleugnern, ständig von der Infektion durch gewissenlose Huster und Nieser bedroht.“

„Querdenker?“ sagen die Drei wieder im Chor. „Wer waren noch mal die Querdenker?“

Miranda verdreht die Augen, was sie endgültig aussehen lässt wie eine Porzellanpuppe. „Hört ihr denn gar nicht zu, wenn Opa erzählt? Das ist doch seine Lieblingsgeschichte. Und am Schluss kommt dann immer: Opa an vorderster Front bei der Bekämpfung der Weltseuche. Opa als freiwilliger Impfhelfer, wie er tagelang im Schweiße seines Angesichtes Impfpässe ausgestellt und abgestempelt hat. Nicht zu vergessen, wie er verzweifelte Menschen getröstet hat, die nicht drangekommen waren und am nächsten Tag wiederkommen mussten. Das erzählt er doch je-he-des Jahr. Sagt bloß, ihr kennt das noch nicht auswendig!“

Die Drei schütteln synchron die Köpfe, was vielleicht darauf hinweist, wie sie es bislang geschafft haben, die Erzählungen ihres Großvaters wieder aus ihren Hirnen herauszuschaffen.

„Ihr Glücklichen“, sagt Miranda. Da erklingt von unten das Glöckchen. „Auf ins Gefecht“, sagt sie.

Ein Stockwerk tiefer lauscht der Schriftsteller S. sehr versonnen dem etwas blechernen Klang der kleinen Glocke, die vor über siebzig Jahren schon ihn ins Weihnachtszimmer gerufen hat.

Da legt ihm seine Frau eine Hand auf den Arm. „Fändest du es nicht toll, wenn du mir heute Abend ein besonderes Geschenk machen würdest?“

S. lächelt milde.

„Dann erzähl bitte einmal zu Weihnachten nicht vom Corona-Jahr. Nicht vom Lockdown, nicht von der flachen Kurve und nicht von den Querdenkern. Versprichst du mir das?“

S. zieht die Stirn kraus, und da ist viel Stirn zum Krausziehen. „Auch nicht von meinem freiwilligen Jahr an der Impffront?“

„Davon am allerwenigsten, bitte.“

„Aber ihn darf ich tragen?“, sagt S. und fasst sich ans Revers seines Hausanzuges, wo er zu hohen Feiertagen wie diesen die kleine Anstecknadel trägt, die der damalige Bundespräsident an Weihnachten 2021 allen freiwilligen Impfhelfern für ihre aufopferungsvollen Dienste verliehen hat.

Doch bevor seine Frau antworten kann, stürmen die drei Jungs die Treppe herunter, Miranda in königlicher Haltung hinterher. Wenige Sekundenbruchteile darauf beginnt die Schlacht um die Pakete.

Sehr viel später am Abend sind alle satt oder haben Bauchweh, und die Geschenke sind so lange untereinander ausgetauscht, bis jeder hat, was er sich wünschte. Kurz vor Mitternacht kehrt Stille ein, und da erhebt sich Miranda wie die Schaumgeborene aus einem Meer von Geschenkpapier. Ihre Wangen sind ganz leicht gerötet, ihre Locken durch die Hitze im Zimmer noch kleiner geworden. „Und jetzt“, sagt sie, „erzählt Opa von Corona.“

Insgesamt acht entsetzte Augenpaare ruhen auf ihr. Sie gehören zwei Elternpaaren, einem Bruder, zwei Cousins und ihrer Oma. Geräuschlos, aber laut tönend steht ein „Warum das denn?“ im Raum.

Miranda zuckt ihre Ballerinenschultern. „Es ist schrecklich langweilig“, sagt sie. „Aber ohne fehlt mir was.“