Corona-Brief Nr. 26
Konfettiparade (15.11.2020)
Ich habe einen Vorschlag zu machen: mehr Freude, mehr Stolz!
Vor Wochenfrist wurde gemeldet, dass noch in diesem Jahr ein Impfstoff gegen Covid 19 in den Massentest gehen soll, der laut Angaben der Hersteller einen 90-prozentigen Schutz vor der Infektion verspricht, was bedeuten würde, der Schutz wäre erheblich größer als bei den bisherigen Impfstoffen gegen die „normale“ Grippe.
Natürlich wurde die Nachricht an prominenter Stelle verbreitet, aber bis heute bin ich über die allgemeine Reaktion ein bisschen verblüfft. Nach meinem Dafürhalten hätten wir eigentlich alle auf den Marktplatz gehört – bzw. auf das digitale Forum –, um uns dort zu gewaltigen Freudenmärschen zu formieren. Konfettiparaden hätte ich auch ganz angemessen gefunden, natürlich mit irgendwie virtuellem Konfetti, wir wollen ja im Schatten der Seuche nicht den Umweltschutz und den Klimawandel vergessen. Und vielleicht wäre es auch möglich, „Freude, schöner Götterfunken“ in Gebärdensprache aus dem Fenster zu schmettern.
Oder überschätze ich den Anlass? Ich denke: Nein! Auf ein zuverlässiges Mittel gegen die großen Seuchen, die die Menschheit erschüttert und dezimiert haben, musste man oftmals Jahrhunderte warten. Im Mittelalter warf die Pest die europäische Kultur um 100 Jahre zurück, und bis zu einer Einsicht in ihre Verbreitung und ein Gegenmittel dauerte es über ein halbes Jahrtausend. Ich könnte die Aufzählung fortsetzen, nenne aber nur noch zwei weitere Namen: Syphilis und Aids. Letzteres brach vor vierzig Jahren aus, und bis heute haben wir es gerade mal geschafft, die Krankheitsfolgen für die Infizierten erheblich abzuschwächen; heilbar ist Aids noch nicht.
Wie anders Covid 19! Etwa vor Jahresfrist ausgebrochen, rasend aggressiv, durch die Globalisierung der Verkehrswege in seiner Pandemie-Potenz erheblich befördert, gefährlich für alte und, wie man jetzt endlich weiß, auch für junge Menschen, sehr geeignet, die Gesundheitssysteme auch in hoch entwickelten Ländern an den Rand ihrer Leistungsfähigkeit und darüber hinaus zu bringen. Ein Dämpfer, und mehr noch, teilweise ein Killer für die Ökonomie. Ein allgemeiner Depressionsverstärker. Sehr übel.
Aber! Nach nicht einmal einem Jahr kommt die Nachricht von einem vielversprechenden Impfstoff, der aus einer deutschen Firma stammt, die unter anderem von einem türkischstämmigen Wissenschaftlerpaar geleitet wird. Aber sehe ich hygienisch korrekte Konfettiparaden? Höre ich aus all den Wohnungen, in denen wir nach dem zweiten Lockdown eingesperrt sind, Freudengesänge durch die geschlossenen Fenster auf die Straße dringen? Sehe ich Sondersendungen, die mich durch die Laborräume führen, in denen womöglich die Rettung der halben Menschheit bewerkstelligt wurde? Und: Für die gekaufte Weltmeisterschaft 2006 wurde die deutsche Flagge flächendeckend von allen üblen Assoziationen gereinigt und stolz präsentiert. Sehe ich jetzt Schwarz-Rot-Gold als die heiteren Farben des prospektiven Impfstoffes über Außenspiegel gezogen?
Die Antwort lautet: Nun ja, eher nein.
Aber was ich deutlich sehe, das ist zum Beispiel eine äußerst hochgefahrene Berichterstattung über Menschen, die sich das schöne Wort Querdenker angeeignet haben, um zusammen mit Krawallschlägern jeglicher Couleur durch die Straßen zu ziehen und ihre Mitmenschen zu gefährden, um das alles diplomatisch auszudrücken. Ich höre, wie das Geraune von Impfgegnern auf Saallautstärke hochreguliert wird. Ich vernehme skeptische Kommentare darüber, ob und inwiefern die Verteilung der Impfdosen die Bevölkerung spalten und zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen (Impfprivilegierte gegen Nichtgeimpfte) führen könnte. Etc. etc.
Ich bin der letzte, der Skepsis verbieten und Kritik unterdrücken wollte. Aber ich wäre auch nicht gerne der erste oder einzige, der zu ein bisschen mehr Enthusiasmus, Freude und – ernsthaft! – Stolz aufruft. Sollte es der medizinischen Wissenschaft gelingen, den Rückschlag, den Corona der Menschheit verpasst, auf ein paar Jahre zu reduzieren, dann hätten wir meines Erachtens, bei allem schuldigen Respekt gegenüber den Opfern, Grund zur Freude. Ich jedenfalls freue mich seit Tagen über und auf den Impfstoff. Und sähe das nicht allzu albern aus, dann würde ich gelegentlich öffentlich hüpfen.
Doch da ich diesen Satz schreibe, der eigentlich der Schlusssatz meines Textes werden sollte, geht mir auf, dass der Mangel an Freude womöglich sein Gutes hat. Freude, das erfahren wir jetzt in der Vorweihnachtszeit besonders drastisch, ist momentan schlecht für die Menschen und gut für Corona. Ein Hüpfer auf der Straße, und die Viren hüpfen mit. Daher fallen wohl weiterhin Fußballtore ohne Jubel und sind daher nur halb so schön, Weihnachten wird womöglich vollends auf einen Kaufrausch im Internet reduziert, und Silvester – darüber will ich gar nicht erst nachdenken.
Corona ist wirklich eine Scheißkrankheit: Sie versaut einem sogar die Freude auf ihre Niederlage.