17. Jahrhundert, beinahe pur.

Auf dem Museumsschiff „Halve Maen“ in Hoorn
(2018)

Eigentlich sieht sie nicht aus wie ein Segelschiff aus dem 17. Jahrhundert. Eher wie ein ziemlich groß geratenes Modell davon. Aber die Maße stimmen. Auf knapp zwanzig Metern drängeln sich drei Masten und ein Bugspriet mit insgesamt sechs Segeln. Das erhöhte Vorderdeck bietet kaum Platz für zwei Matrosen, die dort die Taue bedienen. Das ebenfalls erhöhte, schmale und steile Achterdeck teilen sich der Kapitän und die Bedienung des Besanmastes sowie ein Passagier, der achtgeben muss, nicht im Weg zu sein. Einzig auf dem etwa fünf Meter breiten Hauptdeck könnte man ein paar Schritte tun; allerdings nur, wenn dort nicht gerade die Segel des Großmastes bedient werden.
Der Passagier auf dem Achterdeck bin ich. Meinen inoffiziellen Sitzplatz auf dem Kasten, unter dem der Steuermann steht, den einzigen Sitzplatz an Bord, habe ich mir schon vor zwei Tagen ausgesucht, als ich die Halve Maen zum ersten Mal besichtigt und die heutige Fahrt gebucht habe. Von hier aus habe ich eine gewisse Übersicht, auch wenn das Großsegel den Blick nach vorne erheblich beeinträchtigt. Überdies sitze ich gleich neben dem Kapitän, unter mir bedient der Steuermann den Kolderstock, eine Fortsetzung der Ruderpinne. So etwas wie ein Steuerrad gab es 1609 nämlich noch nicht, auch nicht auf Schiffen, die größer waren als diese beidseitig spitz zulaufende Nussschale.
1609 ist das Jahr, in dem dieses Schiffchen, also sein historisches Vorbild, seinen Namen in die Seefahrtsgeschichte einträgt. Die Halve Maen (Halbmond), in Hoorn an der damaligen Zuidersee gebaut, hat bereits ein paar Jahre lang Güter über den Atlantik und die Ostsee transportiert. Jetzt chartert sie die VOC, die Niederländische Ostindien-Kompanie, um damit einen Seeweg nach Indien zu suchen, der weniger lang und gefährlich ist als der um die Kaps. Als Kapitän und Leiter der Expedition wird der Engländer Henry Hudson engagiert, über dessen Leben bis zu diesem Zeitpunkt man so gut wie gar nichts weiß. Er muss ein erfahrener Seemann und Navigator gewesen sein; wahrscheinlich an die vierzig Jahre alt, was bedeutet, dass er dreißig Jahre auf See verbracht hat.
Um 1609 ist die VOC noch längst nicht auf dem Höhepunkt ihrer historischen Bedeutung angekommen. Vielmehr ist sie gerade erst dabei, die Niederlande in ihr Goldenes Jahrhundert zu führen, indem sie das Land zur größten Handelsnation der Welt macht. Was für ein Vorsprung vor allen anderen Konkurrenten wäre es da, den Weg zu den lukrativen Handelsorten in Ostindien entscheidend abkürzen zu können.
Hudson versucht zunächst weisungsgemäß, Russland nördlich zu umfahren, scheitert aber wie alle seine Vorgänger am Eis. Also steuert er auf eigene Faust westlich, erreicht den amerikanischen Kontinent und biegt nach einigem Hin und Her in ein Gewässer ein, von dem Gerüchte sagen, es führe geradewegs in den Pazifik. Es geht vorbei an der Landzunge, die die Eingeborenen Manahatta nennen. Ein schöner Platz für eine Handelssiedlung, wie Hudson bemerkt. Aber schon zehn Tage später wird ihm klar, dass das Gewässer nur ein Fluss ist, der immer schmäler wird und von dessen Ufern Eingeborene, die offenbar schlechte Erfahrungen mit Europäern haben, mit Pfeil und Bogen auf seine Besatzung schießen. Hudson lässt wenden, freilich nicht ohne für seine Auftraggeber allerlei Informationen über das Land zu sammeln. Nach etwas über einem halben Jahr kann er seine Erkenntnisse in Amsterdam vorlegen.
Die wirken nun auf den ersten Blick eher bescheiden. Die gesuchte Abkürzung wurde nicht gefunden, beiläufig gesagt, weil es sie erst geben wird, wenn Suez- und Panama-Kanal gebaut sind. Hudsons Erkundungen bilden aber die Grundlage zur Kolonialisierung weiter Teile von Nordwestamerika durch die Niederlande. Auf Manahatta wird Neu Amsterdam gegründet, das schon eine bedeutende Stadt ist, als es 1664 von den Engländern eingenommen und zu New York gemacht wird. Ein paar Jahrzehnte lang prägt die niederländische Kultur die Region. Die Yankees, das sind, so heißt es, Jan und Kees aus Holland.
Henry Hudson wird von all dem allerdings rein gar nichts erfahren. Zwei Jahre später wird er bei einem Versuch, den amerikanischen Kontinent nördlich zu umfahren, von seiner meuternden Besatzung ausgesetzt. Man hat nie wieder von ihm gehört. Sein Name aber wird bis heute millionenfach genannt, denn nach ihm heißt der Fluss durch New York, auf dem er in den Pazifik fahren wollte.
Die Halve Maen, auf deren winzigem Oberdeck ich sitze, ist bereits die dritte ihrer Art. Die erste, das Original, ging 1618 vor Jakarta in einem Seegefecht verloren. 1909, zum 300. Jahrestag der Hudson-Expedition, schenkten die Niederlande dem Staat New York einen Nachbau, der 1934 verbrannte. 1988 wurde in den USA ein zweiter Nachbau aufgelegt, der dem New Netherland Museum in New York gehört und Fahrten auf dem Hudson River absolvierte. Das Schiff ist weniger ein originalgetreuer Nachbau und eher eine Touristenattraktion. So wurde zum Beispiel das Unterdeck tiefer gelegt, damit man sich dort nicht dauernd den Kopf stößt. Puristische Schifffahrtshistoriker packt hier das Grausen, aber das nahm man in Kauf. 2015 war die Attraktion wohl etwas abgelebt, und so überließ das Museum die Halve Maen für fünf Jahre der nordholländischen Stadt Hoorn am jetzigen Markermeer. Damit kam, wenn man die sentimentale Geschichtsklitterung erlaubt, das kleine Schiff nach 406 Jahren nach Hause.
Es sei schade, sagt der Kapitän, dass die Halve Maen am äußersten Ende des Hafens liege, geradezu versteckt hinter einem großen Schuppen, der zum kleinen Museum „Fahrendes Erbgut“ gehört, einem Liegeplatz für historische Fischerboote und Transportschiffe. Viel besser würde sie sich vor der historischen Kulisse Hoorns mit seinem Hauptturm aus dem 16. Jahrhundert machen. Hier könnte sie den höchst pittoresken Mastenwald ergänzen, den die eisernen Frachtsegler aus dem 19. und 20. Jahrhundert bilden, die heute überwiegend als Ausflugsschiffe dienen. Da sie dort aber womöglich wildes Volk dazu verleiten würde, nächtens in ihrer Takelage herumzuturnen, hat man die Halve Maen so gut es geht gegen unerlaubtes Betreten gesichert.
Pünktlich um sechs an diesem Freitagnachmittag beginnt die Ausfahrt, die während des Sommers einmal im Monat stattfindet. Ich habe einen recht stattlichen Preis dafür bezahlt, in dem allerdings die Verpflegung inbegriffen ist. Begrüßt wurden wir zwölf Passagiere mit einer geradezu rührenden und absolut bodenständigen Freundlichkeit, die gleich zu Beginn der Tour alles Touristische fast unkenntlich macht. Die Leinen sind losgeworfen, und jetzt zieht der leise tuckernde Dieselmotor, den die Amerikaner höchst vorbildwidrig, aber sinnvollerweise in das Schiffchen gebaut haben, die Halve Maen rückwärts aus ihrem Parkplatz in das große Hafenbecken. Dort justiert er sie auf die Hafenausfahrt, die Segel werden gesetzt, die große Flagge gehisst. Das alles geschieht unter dem Applaus der Passagiere auf den kastenbrotförmigen Flusskreuzfahrtschiffen, die in Hoorn Station machen und dessen historische Silhouette dermaßen stören, dass ich jeden verstehen kann, der sie mit den Kanonen der Halve Maen am liebsten versenken würde.
Noch vor der ziemlich engen Hafenausfahrt, das ist Ehrensache, schaltet der Kapitän den Motor aus. Was jetzt beginnt, das ist, was ich sehen wollte. Dafür bin ich gekommen, und dafür habe ich bezahlt: Es ist das Fahren mit einem Segelschiff des frühen 17. Jahrhunderts, mit einer sogenannten Jacht, dem kleinsten unter den Schiffen, die damals sowohl als Handels- wie auch als Kriegs- oder Expeditionsschiffe eingesetzt wurden.
Schon während des Ablegens habe ich angefangen zu begreifen, wie das kleine Museum in Hoorn seine amerikanische Leihgabe am Leben und in Betrieb hält. Es gibt einen Kapitän, einen jungenhaft sympathischen, charmant verwegenen Mann, der im Hauptberuf Hafenrundfahrten organisiert und vermutlich so viel Zeit auf dem Wasser verbracht hat wie Henry Hudson in seinem Alter. Daneben gibt es einen Steuermann und den Chef des Fockmastes, die wohl ein wenig älter sind als er. Diese Drei tun ganz erkennbar nicht zum ersten Mal, was sie hier tun. Beim Rest der zwölf Besatzungsmitglieder, die heute an Bord sind, verteilen sich die Kenntnisse in der Handhabung eines historischen Seglers eher ungleichmäßig.
Doch irgendein Problem gibt es damit nicht. Im Gegenteil. Zumindest bei der Windstärke 3-4, die heute herrscht, macht es einen Großteil des Charmes dieser Fahrt aus, dass jedes Segelmanöver zuvor vom Kapitän ausführlich erklärt wird, den Passagieren natürlich, aber auch der Mannschaft, sei es als Erstinstruktion, sei es als Wiederauffrischung. Man hat sich auf die Bordsprache Englisch geeinigt, tatsächlich gibt es dann fast jedes Kommando und jeden Kommentar auch auf Niederländisch und Deutsch. Von meinem Platz aus kann ich besonders gut verfolgen, wie der smarte und immer freundliche Kapitän auch die unbedarfteren Mitglieder der Crew von Groß- und Besanmast geduldig an die richtigen Taue schickt, während er gleichzeitig durch den gewölbten Bauch des Segels hindurch Kontakt mit den Profis am Fockmast hält. Hundertmal habe ich in marinehistorischen Romanen gelesen, wie eine Horde frisch zum Seedienst gepresster Landratten angelernt wird. Hier sehe ich es zum ersten Mal, allerdings fehlt glücklicherweise das insistierende Tauende des Bootsmanns.
So wird das Ganze zu einer Lehrstunde, nein, zu vier wundervollen Lehrstunden im Umgang mit den Fahrzeugen, mit deren Hilfe einmal die Expansion Europas betrieben wurde. Indem ich auf dem Achterdeck der Halve Maen hocke, über mir die fünf jetzt doch recht imposanten Segel, erfahre ich körperlich, wie sich damals ersten Globalisierungsschritte vollzogen, auf Schiffen wie der Halve Maen, wo es weniger Platz und Annehmlichkeiten gab als in einem VW Campingbus von 1950 und wo es als Schutz vor Sturm und Wellen nur die Erfahrung und das Geschick der Besatzung gab. Um nichts in der Welt würde ich es wagen, mit einem solchen Schiff den Atlantik zu überqueren. Ich bin schon dankbar dafür, dass uns der Kapitän vermittels einer Wetter-App auf seinem ramponierten Handy an einem Regenschauer vorbeisteuert.
Schließlich trifft uns unversehens doch eine Böe. Eines der oberen Segel soll eingeholt werden, doch zwei Taue sind nicht schnell genug gelöst, und schon macht der leichte Wind auf dem Binnenmeer aus dem zuvor so braven Stück Leinwand ein gefährlich flatterndes und bösartig um sich schlagendes Wesen. Zum Glück gehört der Mann im Mastkorb zu den Erfahrenen und bändigt das Tuch. Mir hat die Szene allerdings schon genügt. Ab sofort, so glaube ich jedenfalls, kann ich mir vorstellen, was ein richtiger Sturm mit diesem ach so kleinen und vom segeltechnischen Standpunkt her doch eher schlichten Schiff anstellen könnte.
Nach Segelsetzen, vier Stunden Fahrt inklusive drei Wenden und einer Halse, Linsensuppe, belegten Broten und Kaffee (Alkohol ist nicht erlaubt) erreichen wir wieder den Hafen von Hoorn. Die Segel werden eingeholt. Ein vielleicht 14-jähriger Junge, der sich in den letzten vier Stunden mit der Geschicklichkeit eines jungen Schimpansen und der Bedächtigkeit eines alten holländischen Seemanns in der Takelage bewegt oder es sich auf der Rah des Großsegels bequem gemacht hat, sorgt dort oben wieder dafür, dass sich kein Tau verheddert. Die junge blonde Biologin, die mir erzählt hat, wie sehr sie sich am Freitagnachmittag nach der Laborarbeit auf die Ausfahrt freut, steigt heute zum ersten Mal über die dünne Strickleiter in den Besanmast, um dort das Segel festzubinden. Nach getaner Arbeit bekommt sie Applaus vom Oberdeck. Schließlich parkt der Kapitän das kleine schwimmende Museum unter Zuhilfenahme des Dieselmotors wieder sicher ein. Zur Verabschiedung gibt es noch ein Stück Schokolade und einen Kräuterschnaps der Marke Halve Maen.
Wenn ich den Kapitän richtig verstanden habe, berät der Stadtrat von Hoorn noch darüber, was nach Ablauf der Leihfrist im übernächsten Jahr mit dem Schiff geschehen soll. Der Unterhalt kostet 40.000 € im Jahr, Reparaturen nicht inbegriffen. Ich kenne das von vielen Beispielen: Fahrende Museumsschiffe sind heikle und gefährdete Wesen. Mein bescheidener Beitrag zum Erhalt der Halve Maen mag also neben dem Fahrpreis aus einem freundlichen Imperativ bestehen. Er lautet: Besuchen Sie Hoorn! Gehen Sie an Bord! Vorausgesetzt, die Flusskreuzfahrtschiffe sind gerade nicht da, bekommen Sie nirgendwo sonst so viel pures 17. Jahrhundert.