Corona-Brief Nr. 17

Unwort Coronaleugner (9.8.2020)

 

Was ist eigentlich Sprachkritik? Manche glauben, Sprachkritik sei, wenn man sich über Genitive mit Apostroph im Deutschen lustig mache, wenn man die Verwechslung von den und dem moniere oder die Ausweisung von sogenannten Fremdwörtern fordere. Ich sehe das anders, wenn ich mich an großen Vorbildern wie dem österreichischen Satiriker Karl Kraus orientiere. Für ihn war Sprachkritik die Frage danach, warum bestimmte Begriffe und Formulierungen Karriere machen, warum sie sich gegen die Fülle sprachlicher Alternativen durchsetzen und vor allem: was sie über das Bewusstsein ihrer Sprecher aussagen.

Ich habe zwei kleine Bücher zu diesem Thema geschrieben. Sie sind nicht mehr im Handel, die Texte daraus, etwa einhundertfünfzig Sprachglossen, werden demnächst hier auf meiner Webseite untergebracht werden. Mein Lieblingsbeispiel und Titel eines der Bücher ist die Redewendung „gut aufgestellt“, die mit geradezu tödlicher Regelmäßigkeit von Wirtschaftsleuten verwendet wird, wenn sie in schwierigen Zeiten kommunizieren wollen, dass es ihrem Unternehmen gut geht (oder dass es wenigstens noch lebt).

In solch einer (Mode)Phrase sind oft Absichten verborgen, die den Sprechern gar nicht ganz bewusst sind. Ich bleibe bei meinem Beispiel: Wer den Ausdruck „gut aufgestellt“ benutzt, erschafft damit das Bild einer altmodischen Armee, deren Einheiten irgendwie sinnvoll im Gelände verteilt sind. Man könnte das als unmodernes Denken bezeichnen, und tatsächlich versteckt sich dahinter die Sorge, der Gegenwart nicht gewachsen zu sein. Würde man das richtige Wort für die aktuelle (ökonomische) Bedrohung benutzen, dann würde sie womöglich sichtbar werden, also hofft man, sich in alte Bilder retten zu können.

Häufig funktioniert das. Sprachkritik ist dazu da, solche Mechanismen aufzudecken. Probieren Sie es ab jetzt aus: Wenn Sie jemanden sagen hören, sein Unternehmen sei „gut aufgestellt“, dann können Sie sicher sein, er befindet sich in der Defensive. Gäbe es einen deutschen Bill Gates, so hätte er den Ausdruck niemals verwendet. Er würde ihn nicht einmal kennen.

Mir geht es heute um das Wort „Coronaleugner“ (bzw „Corona-Leugner“). Mit ca. 1.000.000 Einträgen bei Google dürfte es momentan die „erfolgreichste“ Wortneuschöpfung sein. Gemeint sind damit Menschen, die grundlegend oder teilweise Kritik an den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie üben. Ihr Spektrum reicht von denen, die Maskenpflicht und Distanzregeln für sinnlos halten oder gar ihrer Missachtung aufrufen, bis zu denen, die glauben, die Seuche existiere gar nicht, sondern sei eine von Regierungen initiierte mediale Veranstaltung, die der Entmündigung und Unterdrückung der Bevölkerung diene.

Wie ist es zu diesem Wort gekommen? Ich bin mir sicher, es ist in Analogie zu „Holocaustleugner/Holocaustleugnung“ entstanden, einem Begriff, der durch die Schaffung eines entsprechenden Paragrafen im Strafgesetzbuch ein offizieller Bestandteil der Sprache geworden ist. Es ist also sinnvoll, zunächst nach diesem Vorbild zu fragen.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist eines der wichtigsten Rechte in der Demokratie. Es war also keine Kleinigkeit, als vor über dreißig Jahren der Bundestag ein Gesetz beschloss, nach dem ein Satz wie: „Es hat keine Konzentrationslager gegeben“, öffentlich geäußert, mit Geld- oder Gefängnisstrafe belegt wurde.

Denn eigentlich erlaubt hierzulande die Meinungsfreiheit, alles Mögliche zu leugnen: dass die Erde eine Kugel ist, dass die Quadratur des Kreises noch nicht gelungen oder dass das Rauchen gesundheitsschädlich ist. Warum also soll man nicht behaupten dürfen, es habe keine Konzentrationslager gegeben? Die Antwort lautet: Weil die Erfahrung gezeigt hat, dass es sich dabei in den allermeisten Fällen nicht um eine Meinungsäußerung, sondern um politische Propaganda zu Gunsten eines faschistischen Systems handelt. Und da auch der demokratische Staat das Recht hat, sich vor denen zu schützen, die ihn vernichten wollen, hat 1994 das Verfassungsgericht das Verbot der Holocaustleugnung als mit dem Grundgesetz vereinbar bestätigt.

Was aber bedeutet das für „Coronaleugner“? Nun, es rückt denjenigen, der nicht an die Existenz der Seuche glaubt, durch den sprachlichen Anklang in die Nähe dessen, der ein absolut offenkundiges, vielfach dokumentiertes Jahrhundertverbrechen leugnet. Das ist schon ein starkes Stück.

Oder besser sage ich wohl: Es ist das zweite starke Wort-Stück in kurzer Zeit. Denn zuvor hat bereits das Wort „Klimaleugner“ Karriere gemacht als Bezeichnung für diejenigen, die nicht glauben, dass es eine von Menschen gemachte und höchst gefährliche globale Erwärmung gibt. Der öffentliche Diskurs ist voll davon. Wer etwa „Fridays for Future“ für eine Bewegung übertrieben hysterischer Teenager hält, fängt sich rasch die Bezeichnung Klimaleugner ein.

Nun soll bitte kein Missverständnis entsteht! Ich selbst habe mich von wissenschaftlichen Berichten davon überzeugen lassen, dass es eine globale, von Menschen bewirkte Klimaerwärmung gibt und dass sie für die Menschheit gefährlich ist. Und ich bin mir auch sicher, dass die Bilder von Kühllastern, die in New York während der Corona-Pandemie die Funktion von Leichenhallen übernehmen, nicht irgendwelche Fake News sind. Bräuchte ich einen weiteren schlagenden Beweis für die Gefährlichkeit der Krankheit, dann reichte mir bereits der Umstand, dass der amtierende amerikanische Präsident sie herunterspielt.

Trotzdem muss ich Bedenken anmelden. In unserer Sprache schwingt im Wortteil „-leugner“ immer das Abtun der großen Verbrechen des Nazismus mit. Den Mord an Millionen Menschen zu leugnen, deren traurige Lebensgeschichten ausreichend dokumentiert sind, ist ein aggressiver Akt der Geschichtsverfälschung. Dagegen darf über die Frage der Klimaentwicklung in der Zukunft prinzipiell gestritten werden. Und ebenso darf es verschiedene Meinungen über die Gefährlichkeit von Corona und die Angemessenheit von Gegenmaßnahmen geben. In einer Demokratie zu leben, heißt auch immer, mit Menschen leben zu müssen, deren Ansichten man nicht teilt. Man mag über sie den Kopf schütteln, sie mögen einen ärgern oder wütend machen; aber ich denke, man sollte sich nicht dazu versteigen, sie als „-leugner“ zu diskreditieren.

Das geht mir einfach zu weit. Diskurse müssen ausgetragen werden, auch wenn das langwierig und anstrengend ist. Das ist das Wesen unserer Demokratie. Gegenseitige Verurteilungen, die lautstarke Betonung der eigenen moralischen Überlegenheit und ein aggressives Schubladendenken sind, vorsichtig gesagt, wenig hilfreich. Coronaleugner aber ist ein Wort, das sich als schnelle und wohlfeile Waffe anbietet, wenn man Andersdenkende nicht überzeugen (oder einfach nur ignorieren), sondern abstempeln will.

Ich erwäge, die Worte Klimaleugner und Coronaleugner demnächst als Vorschläge zum Unwort des Jahres einzureichen. Wahrscheinlich werden sie nicht in die engere Auswahl kommen; der mainstream denkt anders. Aber sie hätten es „verdient“. Denn echte Demokratie erweist sich nicht im schnellen Besserwissen; und auch die Leute mit den problematischsten Ansichten haben Anspruch auf ein Mindestmaß an Respekt.