Corona-Brief Nr. 19
Pandemiegewinner 2
Thorsten (Inhaber eines Geschäftes für Campingbedarf), 26.8.2020
„Also, ich bin’s, der Thorsten. Ich bin 44 und alleiniger Inhaber von Harry`s Outdoor, Fachgeschäft für Campingbedarf.
Nicht, dass Sie denken, Harry wäre mein Spitzname. Harry war der Hund, den wir hatten, als ich ein Junge war, so ein Neufundländermix, eine Seele von einem Tier. Bloß war er viel zu groß und viel zu schmutzig, als dass er immer drinnen sein konnte. Hab ich als Junge natürlich nicht verstanden. Gab ein Riesen-Trara von wegen: Das ist doch herzlos, den Harry draußen in eine Hütte zu sperren. Ich hab dann tatsächlich durchgesetzt, dass er wieder rein durfte, auch wenn er alles dreckig machte. Aber was glauben Sie? Dem gefiel es draußen besser als drinnen. Mein Vater hat ihm dann so eine Luxushütte gebaut. Riesig groß, und mit Fußbodenheizung. Ist nicht gelogen. Im Winter war’s da drin nie unter 18 Grad.
Na, und jetzt können Sie sich wahrscheinlich vorstellen, was passiert ist. Richtig, ich hab dauernd bei Harry in der Hütte gehangen. Auch nachts, klar, und natürlich im Winter. Und als ich dann später überlegt habe, wie mein Laden heißen soll, da war das sofort klar: Harry`s Outdoor. Harry ist nämlich der Grund dafür, dass ich damals mit dem Zelten angefangen habe. Oder vielleicht sollte ich eher sagen: Beim Übernachten in Harrys Hütte hab ich damals schon gemerkt, wie gern ich draußen bin und draußen was mache.
Ja, was soll ich noch zu meinem Laden sagen? Wir führen praktisch das ganze Sortiment, alles, was du brauchst, wenn du raus willst. Schuhe, Klamotten, Ausrüstung. Und Zelte natürlich. Vom Einmannzelt, das du dir zusammengerollt in die Hosentasche stecken kannst, bis zu solchen Bungalows, in denen du dich nachts verläufst.
Aber die wichtigste Position in unserem Angebot lautet: Beratung. Beratung, Beratung und nochmal Beratung.
Denn Sie haben ja vielleicht schon mal davon gehört: Es gibt jetzt das Internet. Die Leute kommen nicht mehr in den Laden, um zu sehen, was man denn so Schönes kaufen kann. Nein, sie kommen, nachdem sie sich alles Mögliche im Netz angeguckt haben. Am liebsten hätten sie auch gleich im Netz bestellt, aber es gibt einfach zu viel von allem, und da wollen sie dann doch mal jemanden fragen, einen richtigen Menschen, keine Amazon-Rezension. Also kommen die Leute, zeigen mir was aus dem Netz und fragen mich, was ich davon halte. Und wenn ich dann bloß sage: „Ist okay. Kann man kaufen“, dann verschwinden sie wieder und bestellen es sich im Netz. Dumm für mich.
Und deshalb geht es heute im Geschäft eigentlich nur noch um proaktive Beratung. Ich erkläre den Leuten erst mal so richtig, was sie da im Netz gesehen haben und was es tatsächlich so gibt und was sie wirklich brauchen. Es geht heute nicht mehr darum, dass man alles Mögliche auf Lager hat. Da kann man Amazon keine Konkurrenz machen. Es geht nur noch darum, dass man vernünftig mit den Kunden redet, bis sie sich sagen: „Okay, bei Harry’s Outdoor wissen die Leute Bescheid. Und bevor ich mir irgendein Schnäppchen aus dem Netz anlache, gehe ich lieber dahin und lasse mich anständig beraten.“
Ja, kann sein, dass man so nicht das ganz große Geschäft macht. Von wegen Stapelware. Aber das sagt Ihnen jeder: Es ist besser, einen wirklich guten Kundenstamm zu behalten, als irgendwelche Aktionen für die Massen zu machen. Harry`s Outdoor ist jetzt seit 19 Jahren das Fachgeschäft für sportliche und anspruchsvolle Aktivitäten. Klar haben wir längst einen Internetshop, aber das ist es nicht, womit wir Amazon Konkurrenz machen. Unsere Kernkompetenz ist, dass wir verstehen, was die Leute machen, was sie wollen, und ihnen klipp und klar sagen, was sie dafür unbedingt brauchen und was sie dafür überhaupt nicht brauchen.
Ich sag Ihnen ein Beispiel: Zu uns kommen Leute, die seit Jahren Australien machen und die jetzt mal nach Nordschweden wollen. Oder Lappland. Mit denen gehen wir ihre Ausrüstung durch, Stück für Stück, und sagen Ihnen genau, was geht und was nicht geht. Das sind Leute, die merken sofort, wenn wir ihnen irgendeinen Krempel andrehen wollen, der gerade angesagt ist. Wenn wir das machen würden, gehen wir uns von der Fahne. Andererseits: Wenn wir ihnen Sachen empfehlen, die wirklich gut sind und die sie echt brauchen werden, dann kaufen sie die, und dann gucken sie wirklich nicht auf den Preis. Echt nicht. Und dann schicken Sie uns von unterwegs eine WhatsApp mit einem Foto von dem Teil, das sie gerade benutzen, und dahinter drei Daumen hoch. Das Foto stellen wir dann auf unsere Webseite.
Na, ich denke, Sie haben jetzt einigermaßen begriffen, was Harry’s Outdoor ist. Haben Sie, nicht wahr?
Und dann Corona. Peng! Lockdown. Reisewarnungen, Flugverbote, Quarantäne, das ganze Paket. Uns war natürlich klar, dass die Feriensaison 2020 ein kleines bisschen anders aussehen würde als die Feriensaison 2019. Und uns war auch klar, dass wir davon irgendwas abkriegen würden. Wenn keine Flieger nach Australien gehen, dann ist der Outback für dieses Jahr gestrichen.
Aber andererseits sind unsere Kunden ja gerade die Leute, für die der Massentourismus das röteste von allen roten Tüchern ist. Wir sind nicht die TUI, das nun wirklich nicht. Im Gegenteil, wir sind ein Laden für Leute, für die TUI das absolut Böse ist. Also, haben wir uns gesagt, erstmal Ruhe bewahren. Schauen wir mal, was kommt und reagieren wir irgendwie darauf. Wird womöglich ein schlechtes Geschäftsjahr, vielleicht sogar ein ganz beschissenes. Aber was sollen wir uns beschweren? Und vor allem: bei wem? Diese Pandemie-Scheiße ist ja über die ganze Menschheit gekommen wie die Sintflut.
Ja, und dann ging das los. Und ganz anders, als wir gedacht hatten. Die Leute haben uns buchstäblich den Laden eingerannt. Ich lüge nicht: Das hat ein paar Tage gedauert, bis wir begriffen haben, was da abging. Damit hätten wir ja nicht im Traum gerechnet! Dass nämlich so wahnsinnig viele Leute von einem Tag auf den anderen beschließen, dass sie ab sofort Camper sind. Dass sie sich zu Tausenden sagen: „Okay, Malle und Antalya sind gestrichen, Pool mit Cocktailbar ist gestrichen, Zimmer mit Klimaanlage ist gestrichen, Städtetouren mit Kirchen und Museum sind gestrichen – ja, scheiß der Hund drauf, dann gehen wir eben zelten im Hunsrück.“
Damit hätten wir wirklich nicht gerechnet. Ich meine, es gibt doch noch, wie soll ich sagen, feste Eckwerte im Leben. Unterscheidungen, die immer gelten. In unserem Falle: Hier die Leute, die im Urlaub die Füße hochlegen und keinen Finger krumm machen und es sich vorne und hinten reinstecken lassen. Entschuldigung, Sie wissen schon, was ich meine. Da die Leute, die mit dem Reiseführer in der Hand in irgendwelchen komplett überlaufenen italienischen Städten von einer Ruine zur andern pilgern. Und schließlich unsere Leute, die sich zu ihrem persönlichen Vergnügen mit allerletzter Kraft durch irgendeine Ecke der Welt schlagen, in der sich Fuchs und Elch gute Nacht sagen und die abends eine Stunde lang hart schuften, bis sie einen heißen Tee und eine Dose mit lauwarmen Bohnen kriegen.
Und nun Hand aufs Herz: Wer hat nicht gedacht, dass das drei vollkommen verschiedene Menschenarten sind? Die nichts miteinander gemein haben. Man musste doch eigentlich davon ausgehen, dass ein Ballermann-Tourist und ein Trekking-Tourist nicht einmal Kinder miteinander zeugen können, weil sie irgendwie aus verschiedenem Genmaterial bestehen.
Wir haben das gelegentlich erlebt. Da hatten wir Leute im Laden, die Gott weiß wie interessiert waren. Aber kaufen konnten sie nicht. Die hatten nämlich einen Partner oder eine Partnerin, die mit sofortiger Trennung drohten für den Fall, dass weiter ernsthaft vom Zelten geredet würde.
Ja, so haben wir uns das Leben gedacht.
Und dann wurden wir wahrlich eines anderen belehrt. Die Leute standen vor uns und sagten so was Ähnliches wie: „Einmal alles für 4 Personen.“ So wie man bei McDonald’s bestellt. Die hatten nichts, die wussten von nichts, die wussten nur, dass sie das Zeug sofort brauchen, sofort, denn wenn sie bis heute Abend da und da anrufen, dann kriegen sie auf dem und dem Campingplatz noch einen Platz für ab übermorgen. Oder ab sofort. Also los! Her mit dem Zeug. All inklusive, nur diesmal anders. Diesmal zum Selbermachen.
Sie kennen das wahrscheinlich. Bei Ikea gibt’s so Sets für junge Leute, die zu Hause ausziehen. Alles für die Küche, Set Eins und Set Zwei. Ist alles drin, was man zum Überleben braucht, wenn man outdoor geht, also wenn man das Elternhaus verlässt. Ich hab noch nie in sowas reingeguckt, aber wahrscheinlich ist da auch eine Gebrauchsanweisung bei, so in dem Stil: „Dies ist ein Topf. Befülle ihn mit Wasser. Stelle ihn auf den Herd. Schalte den Herd ein. Gib Nudeln hinzu und warte 10 Minuten, aber verlasse nicht die Küche. Wenn die Nudeln aus dem Topf raus wollen, sind sie fertig.“ So etwas wollten die Leute von uns. Das große Campingpaket für Nichtcamper. Mit einer zweiseitigen Gebrauchsanleitung: „Vom Couchpotatoe zum Trekkingfreak in 20 Minuten.“
Anfangs haben wir tatsächlich versucht, den Leuten das auszureden. Naja, nicht unbedingt ausreden, aber wir wollten sie auf die Schwierigkeiten aufmerksam machen. Dass das beim ersten Mal wahrscheinlich nicht alles genau so funktioniert, wie man sich das vorgestellt hat. Aber wollten die das hören! Nein, wollten die nicht. Die wollten auf Biegen und Brechen über Ostern oder über Pfingsten irgendeine Art von Urlaub machen. Die wollten raus, die wollten raus aus ihrer scheiß Quarantäne, aus ihrem Leben auf 80 Quadratmetern mit 4 Personen ohne Kita und ohne Schule und ohne Job. Die wussten, dass es wohl nicht so wird wie letztes Jahr und vorletztes Jahr und das Jahr davor auf Malle und in Antalya. Aber wenigstens so ähnlich sollte es sein. Und notfalls eben im Hunsrück.
Wir haben uns dann gesagt: Das ist jetzt unsere Aufgabe. Diese Leute laufen gerade in Scharen zu uns über, und wir müssen dafür sorgen, dass es ihnen so gut wie möglich geht. Wir repräsentieren jetzt unsere Branche, und das meint nicht nur das Wirtschaftliche. Das heißt auch: Wir repräsentieren einen bestimmten Lebensstil. Wir sind jetzt dafür verantwortlich, dass die Leute, die ihre Jugend nicht in Harry’s Hütte verbracht haben, einigermaßen erfolgreich raus in die Natur kommen. Das ist jetzt nicht mehr bloß Business, das ist eine Berufung.
Also sind wir hingegangen und haben tatsächlich solche Anfängersets zusammengestellt. Zelt, Kocher, Kühlbox, muss ich nicht alles aufzählen, eben die Sachen, die man unbedingt braucht, damit das erste Zelten nicht die Vollkatastrophe wird. Zum Glück hatten wir den Internetshop. Wir haben alles vom Großlager in den Laden bestellt, per Express. Die Leute konnten ihre Sachen am nächsten Tag abholen. Glauben Sie mir: Ich habe gesehen, dass bei uns Autos auf dem Parkplatz standen, mit der ganzen Familie und allem Zipp und Zapp drin, der Kofferraum vom Kombi bis an die Decke voll, und dann haben die Leute ihre flammneue Campingausrüstung originalverpackt auf den Dachgepäckträger gewuchtet und sind von uns aus direkt los, Richtung Hunsrück.
Eigentlich ist sowas der Wahnsinn. Aber wir haben alles dafür getan, dass wir dabei ein gutes Gefühl hatten. Wir haben für die Leute sogar eine Hotline eingerichtet, 24 Stunden am Tag besetzt, im Ernst: Tag und Nacht. Da können sie uns anrufen, wenn irgendwas nicht klappt. Tun sie auch. Und wenn wir helfen können, dann sind die Leute sowas von dankbar. Das habe ich so bislang noch nicht gekannt.
Soll ich von Geld reden? Kann ich machen. Wir haben jetzt Ende August. Aber bilanzmäßig sind wir im Juni. Juni 2021. Ungelogen. Seit Wochen arbeite ich mich durchs Netz, um Restbestände aufzutun. Wundern Sie sich nicht, wenn Sie im Hunsrück mal ein Zelt mit Flecktarnung sehen. Das kommt womöglich aus einem Sonderposten, den ich ergattert habe. Oder ein blaues Zelt mit UN-Logo. Bisschen gewöhnungsbedürftig vielleicht, aber irgendwie auch stylisch. Und passt ja auch ein bisschen zur allgemeinen Lage. (lacht)
Klar hab ich auch ein bisschen ein Problem mit dem Geldsegen. Wenn ich abends Nachrichten gucke und gesagt wird, welche Branche jetzt auch noch auf dem Zahnfleisch geht, dann komm ich gar nicht schnell genug an die Fernbedienung, um den Kasten abzustellen. Vielleicht muss ich mich ja schämen, dass ich an Corona verdiene, während anderen das Dach überm Kopf zusammenbricht.
Aber sehen Sie es doch einmal so: Ich und mein Laden, wir stehen für eine Art Urlaub, bei der die Natur nicht plattgemacht und eine Unmenge CO2 in die Luft geblasen wird. Das ist ja wohl keine Frage. Und wer zu Fuß unterwegs ist, der kriegt auch ein besseres Bild von dem, was mit der Natur passiert. Und was nicht mit ihr passieren sollte. Ich denke: Vor Corona hab ich einen Laden für Special Interests gehabt, für eine kleine Minderheit. Aber seit Corona haben wir hier eine Aufgabe. Wir arbeiten daran, dass die Leute umdenken. Und wenn nur einer von zehn, die jetzt unser Camping für Einsteiger-Paket gekauft haben, nächstes Jahr wieder Zelten fährt, obwohl es dann einen Impfstoff gibt und obwohl man wieder nach Malle und nach Antalya könnte, dann haben wir eine ganze Menge bewegt. Und zwar in die richtige Richtung.
Mal ganz ehrlich: Einen Laden zu haben, der gut läuft, das ist das eine. Aber bei einer großen Sache mitzumachen, bei einer Bewegung, die in die richtige Richtung geht, das ist was anderes. Und wenn Sie mich fragen: Das ist was viel, viel Besseres.