Corona-Brief Nr. 20

„Corona ist ein gewaltiger Katalysator“

Der Schriftsteller Burkhard Spinnen über die Leere in und die Lehren aus der Pandemie-Krise

Westfälische Nachrichten (Münster). 3.10.2020

Kaum eine Berufsgruppe ist von der Corona-Krise derart betroffen wie Künstler, Musiker und Schriftsteller; denn diese sind auf Begegnung, Öffentlichkeit und Publikum angewiesen. Doch sind, um einmal beim Beruf des Schriftstellers zu bleiben, mit der Corona-Krise nicht auch Chancen verbunden? Eröffnen sich nicht neue Themenfelder, die es schriftstellerisch zu beackern lohnt? Gab es da nicht immer schon die – freilich auch romantisierten – Freiräume für kreative Schaffen in der eigenen Klause? Darüber und über noch viel grundsätzlichere Themen befragte Johannes Loy den münsterschen Schriftsteller Burkhard Spinnen.

In der Süddeutschen Zeitung war kürzlich über das Coronajahr 2020 zu lesen, dass man angesichts von Virus, Verschwörungstheorien und irren Demos am liebsten zum 1. Januar 2021 vorspulen möchte. Geht Ihnen das auch so?

Ich hätte fast ja gesagt. Aber man sollte nicht Monate seines Lebens verschlafen wollen, in der Hoffnung, man wacht in einer besseren Welt auf. Das ist jetzt furchtbar, aber da muss man durch, und zwar mit offenen Augen. Sonst agieren am Ende nur noch die, von denen man es am wenigsten wünscht.

Was empfinden Sie mit Blick auf die globale Corona-Krise als besonders bedrängend und bedrückend?

Die Seuche ist eine Art Stresstest für praktisch alle Staaten der Erde. In diesem Test wird ermittelt, wie gut ihr Gemeinwesen funktioniert, welche Diskussionskultur sie haben, wie rational und human sie geführt werden. Oder ob sie überhaupt noch führbar sind! Wir sind momentan sehr auf uns und unsere enge Umgebung konzentriert, und wir sind stolz auf unsere „Erfolge“ gegen Corona. Aber ein Blick ins Ausland zeigt zum Teil beängstigende Zustände. Und im Zeitalter der Globalisierung können wir gewiss sein, dass die Probleme der anderen bald auch unsere Probleme sind.

„Was ist gut an diesem verdammten Jahr?“, fragte neulich die Süddeutsche Zeitung. Die Frage reiche ich gerne an Sie weiter…

Mir ist noch nichts viel Gutes widerfahren oder begegnet. Wenn eine Zunahme von Freundlichkeit und Rücksichtnahme bloß Corona-stimuliert ist, fällt es mir schwer, sie zu feiern.

Nun könnte Lieschen Müller, und vermutlich nicht nur sie, denken, dass es dem Schriftsteller in seiner selbstgewählten Einsamkeit ja eigentlich gut gehen müsse, weil er in seiner Schreib-Klause nun erst recht die Ruhe und Muße für sein Tun findet…

Sorry, Lieschen und andere. Schriftsteller zu sein, bedeutete auch ganz ohne Pandemie schon, für einen Arbeitsalltag zu sorgen, der ein konzentriertes Schreiben möglich macht. Dass in diesem Jahr praktisch alle meine Veranstaltungen ausfallen, bedeutet für mich nicht einen begrüßenswerten Gewinn von Zeit, sondern einen höchst bedauernswerten Verlust. Ich verliere den Kontakt zu Lesern, ich leide unter dem Schwinden der literarischen Kultur, die in Begegnungen und Gesprächen besteht. Ein Mehltau der Ängstlichkeit legt sich über das, was einmal gedankliche Freiheit fördern sollte. Und natürlich erleide ich einen ökonomischen Einbruch.

Sie deuteten an, dass Sie 2019 einen Roman begonnen haben. Wird der sich durch Corona verändern?

Hat er schon. Ich habe mich eine Zeitlang dagegen gewehrt, habe dann aber begriffen, dass ich persönlich nicht in der Lage bin, so zu tun, als gäbe es noch ein „Jetzt“ ohne Pandemie. Mein Roman sollte aber „jetzt“ spielen, also muss sich mein Held zusätzlich mit Corona herumschlagen. Tut mir leid für ihn.

Wie wird sich Corona generell in der Literatur niederschlagen? Oder ist das eher ein Thema, das man bestenfalls als zusätzliches Spannungselement in einen Krimi einweben kann?

Es ist schwer, eine allgemeine Entwicklung vorherzusagen. Die Kolleginnen und Kollegen werden unterschiedlich reagieren. Aber das Thema hat es in sich. Corona steht auch für die Auswirkungen der Globalisierung, für den Umbau unseres ökonomischen Alltags und für die Einheit und Belastbarkeit unseres Gemeinwesens. Das aber sind Themen, um die Literatur meines Erachtens kaum herumkommt, wenn sie sich für unsere Gegenwart interessiert und sich darin engagieren will.

Gehen wir einmal davon aus, dass Schriftsteller über ein besonderes Sensorium für den Alltag verfügen. Was nehmen Sie bei Ihren Ausflügen an der Peripherie Münsters wahr und wie arbeiten Sie das schriftstellerisch in Ihre Texte ein?

Es sind weniger die Spaziergänge an der Peripherie, aus denen ich lerne. Eher sind es die Besuche auf dem Wochenmarkt und in den Geschäften des Prinzipalmarktes und die Nächte auf der Jüdefelderstraße [eine Kneipenstraße in Münster], dazu die Gespräche mit Freunden und Bekannten und die Stunden im Netz. All das arrangiert sich mehr oder weniger automatisch zu verschiedenen „Haltungen“ gegenüber der Pandemie. Diesen Haltungen versuche ich dann Körper und Geschichten zu geben, wie ich es in meiner Textreihe „Pandemie Gewinner“ getan habe. Die Texte sind in der Rubrik „Corona-Briefe“ auf meiner Webseite nachzulesen. (www.burkhardspinnen.de)

Immer wieder werden in historisch anmutenden Krisen steile Thesen über Lehren für ein künftiges humanes Miteinander der Menschheit aufgestellt. Sie werde etwas lernen, genügsamer sein, gnädiger, wertschätzender gegenüber systemrelevanten Berufen. Was denken Sie?

Ich bin (von Beruf) Skeptiker. Schriftsteller wird man, wenn man zwar Menschenfreund ist, gleichzeitig aber an der Gattung zweifelt. Ich fürchte, wir werden nach Corona (so es ein „Nach“ geben sollte) genug damit zu tun haben, die Schäden zu beseitigen und die Deiche für die Zukunft höher zu bauen. Sollte das gelingen, wäre ich schon sehr zufrieden. Corona ist – so hoffe ich wenigstens! – keine Sintflut als Strafe für schlechtes Benehmen, nach der ein besseres Menschsein gelobt wird. Es ist eine Seuche, ohne die wir besser dran wären.

Sie sagten im Gespräch, dass sich Geschichte auch durch Corona nicht rückwärts bewegt. Dass sie sich im Gegenteil noch in ihrem Wandel nach vorne beschleunigt. An welchen aktuellen Beobachtungen machen Sie das fest?

Corona ist in der Tat ein gewaltiger Beschleuniger und Katalysator. Momentan sieht es zum Beispiel so aus, als sollte uns ganz eindringlich klargemacht werden, dass die Digitalisierung keine Möglichkeit, keine Option, sondern eine alternativlose Revolution unser aller Leben ist. Nehmen wir den Handel. Corona spielt seiner Digitalisierung enorm in die Karten. Ich befürchte, dass viele Positionen, die hier in kürzester Zeit verloren gehen, nicht zurückgewonnen werden. Auf diese Art und Weise aber erscheint die Digitalisierung weniger als Fortschritt oder Evolution, sondern eher als unwiderruflicher Bruch, den die Seuche flächendeckend beschleunigt und der viele Existenzen ruiniert.

Weltdeuter schwadronieren über Erlebnisebenen zwischen „analog“ und „digital“. Während die einen das Digitale als willkommenes und vor allem sicheres Ausweich- und Vereinfachungsvehikel sehen, sehnen sich andere wieder zur Natur zurück, zur Begegnung, zum einfachen Leben am Herd und im Garten. Wie bewerten Sie solche Alternativen?

Vereinfachungen und Entschleunigungen täten vielfach gut. Aber brauchen wir wirklich eine Pandemie, um den PC auszuschalten, uns einen Hund oder ein Fahrrad zu kaufen (was momentan in großer Zahl passiert!) und dann hinaus in die Natur zu ziehen, um das Lob des einfachen Lebens zu singen? Der Preis Corona für ein paar Denkanstöße zur besseren Lebensführung erscheint mir doch sehr hoch. Andererseits ist es sicher nicht falsch, wenn wir kollektiv darüber nachdenken, ob unsere „Selbstverständlichkeiten“ (zum Beispiel Frieden, Freiheit, Wohlstand) tatsächlich selbstverständlich sind oder ob wir nicht viel mehr für ihren Erhalt tun müssen.

Es gibt im Leben eines Schriftstellers vermutlich eine langjährige Themenliste, die bei jedem anstehenden Schreib-Projekt wieder zum Vorschein kommt. Welche Themen bedrängen den Schriftsteller Burkhard Spinnen und drängen ihn zugleich immer wieder an den Schreibtisch?

Die ewigen Fragen: Wer sind wir, was tun wir, was sollten wir tun? Wie jeden, der schreibt, interessiert und fordert mich insbesondere die Art und Weise, wie uns unsere Welt in Sprache erscheint bzw. wie wir sie durch Sprache vermitteln. Einen Roman zu schreiben heißt, eine Geschichte zu erzählen; es ist aber auch immer der Versuch, ganz individuelle Erlebnisse und Gefühle überhaupt sagbar zu machen. Zudem interessiert mich seit langem schon der Einfluss des ökonomischen Denkens auf unseren Alltag.