Die Umgehungsstraße
Dezember 2019
In Münster hat seit ein paar Monaten die letzte Bauphase eines Projektes begonnen, dessen Vorlaufzeit mehrere Jahrzehnte betrug. Es geht um den Ausbau der B 51, der Umgehungsstraße, wie sie in Münster heißt. Knapp gesagt, soll sie eine mehrspurige und ampelfreie Umfahrung der Stadt im Süden ermöglichen und damit einen schnellen Anschluss an die Bundesstraßen Richtung Osten. Die Planung ist in meinen Augen höchst vernünftig, jedenfalls vom verkehrsplanerischen Gesichtspunkt. Und ein bisschen kann ich das beurteilen, ich habe nämlich 20 Jahre lang im Bereich des jetzigen Baugebietes gewohnt. Tatsächlich fehlten dort nur wenige Kilometer Aus- und Neubau, um ein paar vielbefahrene Straßen miteinander zu verbinden und damit den Verkehr in Wohngebieten zu entlasten.
Allerdings ist der Ausbau der Umgehungsstraße ein sehr trauriges Kapitel in der jüngeren Stadtgeschichte. Den Baumaßnahmen fallen nämlich an einigen Stellen Grünbereiche zum Opfer, die jahrelang als Sicht- und Lärmschutz zwischen Straßen und Häusern gedient hatten. Kein Wunder also, dass die Anwohner sich wehrten. Über 30 Jahre lang hat eine Bürgerinitiative gegen den Ausbau prozessiert, bis sie endlich unterlag und die Bauarbeiten begannen.
Ich kann die Leute verstehen. Ich kenne Betroffene persönlich. Aus ihren Fenstern zum Garten schauen sie momentan nicht mehr in große, alte und selbst im Winter kaum zu durchblickende Bäume, sondern unmittelbar auf eine viel befahrene Straße. Die wird demnächst zwar noch abgesenkt und durch Lärmschutzwälle flankiert werden, aber mit der Idylle hinter den Häusern wird es erstmal vorbei sein.
An anderen Stellen rückt die verbreiterte Straße sehr viel enger an die Wohnbebauung heran. Aus dem Autofenster schaut man jetzt in Lebenswelten, die außer ihren Besitzer nie jemand gesehen hat, und erst recht nicht aus dieser Perspektive. Es ist ein Blick in intime Bereiche, der gleichzeitig Neugier weckt und Scham hervorruft. Man wünschte den Bewohnern sehr, dass dieses unerwünschte Fenster in ihr Leben sich bald wieder schließen möge.
Wieder anderswo verwandelt sich ein Areal, das nie irgendeinem erkennbaren Zweck gedient hatte. An seiner Front zur alten Landstraße war über viele Jahre ein ehemaliger Tankstellenbau vor sich hin gestorben, bis er endlich abgerissen wurde. Das Terrain dahinter hatte, zumindest auf mich, immer den Eindruck gemacht, es sei bei der Aufteilung der Welt in Zweckbereiche übrig geblieben und vergessen worden. Jetzt entsteht hier eine komplizierte Straßenlandschaft; hier werden demnächst Verkehrsströme verteilt, Straßen werden umeinander kreisen und sich verzweigen. Viele Tiere haben bereits ihren Lebensraum verloren. Manche werden nach Abschluss der Bauarbeiten zurückkehren, andere werden neu zuziehen; ich habe mir sagen lassen, dass die Innenbereiche von Autobahnkreuzen für manche Arten nicht der schlechteste Lebensraum seien, vorausgesetzt, die Bewohner lernen, wie man eine Straße lebend überquert.
Sowohl der Streit um die Umgehungsstraße als auch ihre Fertigstellung in naher Zukunft zeigen sehr eindrucksvoll, wie „fertig“ unsere Welt zu sein scheint, selbst da, wo sinnvolle Planungen nicht zu Ende gebracht worden sind. Man kann heutzutage offenbar kaum noch etwas Neues schaffen oder Altes verändern, ohne dabei nicht vielen Menschen auf die Füße zu treten oder gar ernsthaft weh zu tun, so wie den Anliegern der neuen Umgehungsstraße. Von den Tieren zu schweigen
Für mich ist die Umgehungsstraße, die ich häufig befahre, ein ständiges Sinnbild für die Problematik unserer Gegenwart. Einerseits schreit alles nach Erneuerungen, nach Kurswechseln, nach Reformen; überall herrscht die Panik, wir könnten den Anschluss verlieren. Aber gleichzeitig stößt jede Veränderung auf gravierende Hindernisse und auf leidenschaftlichen Widerstand. Wir alle wollen schnell sein, modern sein, wir wollen rennen, egal wohin. Zugleich wollen wir unsere Ruhe haben, wir wollen nichts verändern, wir wollen sitzen bleiben, um jeden Preis. Und obwohl wir gut genug wissen, vielleicht sogar, weil wir wissen, dass beides nicht geht, beschweren wir uns und verlangen die Quadratur des Kreises.
Die allerdings ist nach wie vor unmöglich.