Der Domplatz

November 2018

Vor wenigen Wochen jährte sich zum 75. Mal der Tag, an dem Münster von einem verheerenden Bombenangriff getroffen wurde. Fast alle historischen Bauten wurden damals beschädigt, etwa 600 Menschen getötet. Dabei war der 10. Oktober 1943 nur der Auftakt zur flächendeckenden Vernichtung der Münsteraner Innenstadt. Bei Kriegsende wies sie einen der höchsten Zerstörungsgrade deutscher Städte auf. Verloren war damit eines der am besten erhaltenen und schönsten architektonischen Ensembles in Deutschland.

Weniger als 15 Jahre später war Münster wieder aufgebaut; und man muss heute nicht nur amerikanischen Touristen sehr nachdrücklich erklären, dass der Prinzipalmarkt und seine nähere Umgebung NICHT alt und selbst die schönen Kirchen zu einem Großteil Rekonstruktionen aus den 50er Jahren sind. Was allerdings stimmt, ist, dass die Straßenführung und die Dimensionen der Altstadt beim Wiederaufbau einigermaßen gewahrt wurden, sodass die ganze Atmosphäre trotz all der Neubauten jenes höchst attraktive historische Flair vermittelt.

Nun, seit dem Wiederaufbau ist bekanntlich in der Münsteraner Innenstadt nichts mehr verändert worden.

Ich höre keinen Widerspruch? Der wäre allerdings höchst angebracht.

Ich selbst lebe seit 42 Jahren in Münster und lade Sie hiermit ein, einen Rundgang mit mir über den Domplatz zu machen, seit Jahrhunderten das politische, religiöse und geistige Zentrum der Stadt.

Wir beginnen in der Nähe des Prinzipalmarkts beim Gebäude der Bezirksregierung. Der ziemlich kompromisslose Beton-Neubau aus den 60er Jahren hat vor einiger Zeit eine Sandsteinfassade bekommen, mit der er sich an den Dom gegenüber optisch anschmiegt, außerdem wurde der weiland ziemlich öde Vorplatz durch ein glasüberdachtes Foyer ersetzt.

Gleich daneben steht das unauffällige Backsteingebäude der Hauptpost, das ich noch kannte, als in seiner großen Schalterhalle Menschen ihre prähistorische analoge Kommunikation betrieben, indem sie Briefe aufgaben. Heute ist hier ein Café untergebracht, das auch gleich große Teile des überbreiten Fußgängerweges requiriert und in eine attraktive Außengastronomie verwandelt hat.

Wieder ein Haus weiter: das Landesmuseum, ein Altbau, der den Krieg, wenngleich schwer beschädigt, überstanden hatte. 1972 hatte man einen höchst modernen Trakt angebaut, um ihn bereits 40 Jahre später wieder abzureißen und durch einen wesentlich größeren und ziemlich spektakulären Neubau zu ersetzen.

Wir sind jetzt an der Ecke des Domplatzes angekommen. Schräg gegenüber steht das Fürstenberghaus, das Hauptgebäude der philosophischen Fakultät. Auf den ersten Blick mag es aussehen, als sei hier seit den 50er Jahren nichts mehr passiert, doch das täuscht gewaltig. Innen ist das Gebäude mehrfach komplett umgebaut worden; und zuletzt hat man in seinem ebenso melancholischen wie funktionslosen Innenhof einen neuen Gebäudekubus errichtet, ein kühner Akt der Nachverdichtung. Außerdem wurde sein Vorplatz völlig neu gestaltet.

Rechts neben dem Fürstenberghaus steht wieder ein Altbau, den seit dem Krieg auch die Universität nutzt. Zum Domplatz hin ist er unverändert, aber man hat ihm nach hinten heraus und seitlich eine Art Scheibe angesetzt, die das Gebäude erheblich vergrößert und seinem, ich sage mal, Hinterhof eine völlig neue Gestalt gibt.

Ich könnte so weitermachen, aber meine Zeit geht zu Ende, und Sie haben ja auch verstanden, was ich sagen will. Das seit dem Wiederaufbau unverändert und unveränderlich scheinende Münster verändert sich, massiv, und das sogar an seinen zentralen Orten und ohne dass Krieg und Vernichtung der Grund dafür sind. Man muss nur 42 Jahre hier leben, dann fällt es einem auf.

Wenn ich heute über den Domplatz gehe, überlagern sich in mir die Bilder. Das stimmt mich manchmal melancholisch, und dann möchte ich etwas Depressiv-Nostalgisches äußern. Aber zum Glück stopft mir meistens die Freude über die Lebendigkeit und die Dynamik dieses Ortes das Maul.