WG Europa – Am Abend nach der Wahl

2019

Das war ein langer Abend. Ins Bett gegangen bin ich mit Grummeln im Bauch und einem ziemlich leeren Kopf. Und aufgewacht bin ich heute Morgen mit diesem Satz: Europa ist eine Gemeinschaft, ja, aber eine Wohngemeinschaft, eine WG. Sie hat 28 Zimmer, man lebt darin ziemlich eng aufeinander, aber eigentlich sitzt jeder Bewohner bloß in seiner Bude, macht sein Ding und kocht sei eigenes Süppchen. Mag sein, es gibt eine Gemeinschaftsküche, die heißt EU oder Brüssel, aber dahin geht man eigentlich nicht gerne, und wenn, dann hauptsächlich zum Streiten über die Hausordnung und die Putzpläne.

Es gibt keinen Trend, wiederholte der Zahlenpäsentator Jörg Schönenborn gestern Abend gebetsmühlenartig. Nein, alle WG-Bewohner glotzen auf ihren eigenen Bauchnabel, im deutschen Zimmer interessieren sie sich immerhin für das Weltklima, aber im italienischen nur für die Bootsflüchtlinge, im österreichischen für dicke Sprüche auf Ibiza, in den meisten Zimmern bloß für alte Beziehungskisten, und im englischen Zimmer wollen sie eigentlich ausziehen, können aber nicht und zerschlagen stattdessen aus Wut das Mobiliar.

Gut, alle fünf Jahre kommt jemand vom Mieterschutzbund und erklärt ihnen, dass sie gemeinsame Interessen haben und solidarisch sein sollten. Das wissen die WG-Bewohner auch, so doof sind sie nicht, oder sagen wir: etwa die Hälfte ist nicht so doof und beteiligt sich wenigstens an der Wahl zum WG-Vorstand. Aber eigentlich ist ihnen das viel zu kompliziert, es geht ihnen viel zu weit über ihre vier Wände hinaus. Sie ertragen so etwas wie die Globalisierung, solange sie ihnen billige Klamotten und gute Jobs beschert, aber mit den Konsequenzen eines Umbaus der Welt möchten sie sich lieber nicht so intensiv beschäftigen; und am liebsten hätten sie eigentlich, wenn ihr Zimmerchen ein Häuschen wäre, das keine Nachbarn hat und dass man nur verlassen muss, wenn man Urlaub in der Türkei macht.

Derweil lachen sich die großen Nachbarn der WG Europa ins Fäustchen und denken laut über eine feindliche Übernahme nach. Aber ich fürchte, die WG-Bewohner hören nicht einmal dieses Lachen.