Offener Brief an alle, die schreiben, über den offenen Brief
Mai 2019
Meine Lieben, der offene Brief! Ich habe ihn noch gekannt, als er etwas Besonderes war. Eine auffällige Mischform aus privater Mitteilung und allgemeiner Verlautbarung, halb intim und halb öffentlich, oder besser gesagt: beides und sowohl als auch. Außerdem lag unter und über dem offenen Brief immer so eine gewisse Anspannung oder sogar Aggression. Eher selten kamen nämlich Liebeserklärungen in Form eines offenen Briefes daher, nein, eigentlich ging es in offenen Briefen immer um Forderungen, Vorhaltungen und Anklagen. Der offene Brief signalisierte, dass sein Schreiber womöglich eine Zeitlang vorgehabt hatte, sein Anliegen auf privater Ebene vorzutragen – doch schließlich hatte er es einfach nicht geschafft, der Öffentlichkeit die Angelegenheit zu verschweigen. Ja, mehr noch: Letztendlich hatte er darauf spekuliert, die besagte Öffentlichkeit zu seinem Mitstreiter zu machen.
Als ich vor über 20 Jahren meinen ersten und einzigen offenen Brief schrieb, richtete er sich an den damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn. Ich bat ihn darin um einen Stein aus dem Lehrter Stadtbahnhof in Berlin, einem technikhistorischen Bauwerk aus dem 19. Jahrhundert, das nur wenige Jahre nach seiner Renovierung abgerissen wurde, weil es einer kompletten Umgestaltung der neuen alten Hauptstadt weichen musste. Natürlich konnte und wollte ich nicht gegen die Wiedervereinigung und ihre Folgen protestieren, aber ein symbolisches Opfer sollte die neue Zeit der alten doch bringen. Sprich: Ich wollte einen Stein des Bahnhofs, aber ich wollte auch ein bisschen öffentliche Reue von Seiten der Deutschen Bahn. Tatsächlich bekam ich den Stein; ich bekam sogar zwei, weil mir Mehdorns Mitarbeiter sofort einen schickten, ohne noch ihren Chef zu fragen. Ja, so etwas vermochte ein offener Brief. Das waren noch Zeiten.
Aber diese Zeiten sind vorbei. Mit der immer weiter fortschreitenden Digitalisierung unserer Kommunikation und der Einführung der sozialen ebenso wie der unsozialen Netze hat sich die Anzahl der Kommunikationsarten im Alltag vervielfacht. Oder vielleicht sagte ich besser: Die Trennschärfe zwischen den verschiedenen Arten der Mitteilung ist erheblich geringer geworden, wenn nicht gar überhaupt nicht mehr vorhanden.
Ich nehme als kleines Beispiel unsere familieninterne WhatsApp-Kommunikation. Da gibt es mehrere Gruppen, denen nur ich, meine Frau oder einer meiner Söhne angehören. Und dann haben wir vier eine gemeinsame Gruppe. Jedes Mal, wenn ich nun etwas mitzuteilen habe, überlege ich, ob jemand mitlesen soll, auch wenn meine Nachricht ihn gar nicht direkt betrifft. Zu meinem Erstaunen entscheide ich mich ziemlich oft für diese Möglichkeit, mit anderen Worten: Ich schreibe einen kleinen offenen Brief, mag sein, einigermaßen unaufgeregt, aber immer mit gewissen Hintergedanken, nämlich mit dem Blick auf die erwünschten oder erhofften Folgen einer ganz kleinen Indiskretion.
Und jetzt schauen Sie bitte einmal auf den gesamten, so vielgestaltigen Kosmos unserer digitalen Alltagskommunikation. Wie viele Mitteilungsformen gibt es da nicht, in denen sich Privates oder sogar Heimliches einerseits und Öffentliches andererseits überlagern oder sogar vollkommen durchdringen. Die weitgehende Veränderung unserer Alltagskommunikation hat die alten Selbstverständlichkeiten einer Trennung von Geschlossen und Offen in vielen Bereichen zunichte gemacht.
Und die moderne Technik hat unser Bewusstsein jetzt schon verändert: Was für ein Aufwand war es einmal für den Adressaten, einen privaten Brief abzuschreiben und weiter zu verschicken. Heute genügt dazu ein Klick. Und die Folge ist: Jeder, der heute eine Mail dem Netz anvertraut, weiß, dass er damit zumindest potentiell einen offenen Brief geschrieben hat.
Nun will ich mich nicht nur beklagen. Nicht alles Neue ist immer gleich das Schlechte. Aber eine Meinung habe ich schon. Sie lautet: Momentan sind wir zu offen, wir hängen uns viel zu schnell und mit viel zu wenig Grund viel zu weit aus dem Fenster. Doch wenn alle laut sind, wird niemand mehr gehört. Dann wird vielmehr das allgemeine Geschrei zur lähmenden Stille.
Deshalb, liebe Schreiber, bitte ich um allgemein etwas mehr Diskretion. Schreibt mal wieder öfter für einen oder eine ganz allein. Und haltet dabei die Fenster geschlossen.