Platanenpower
Januar 2019
Das Hansaviertel ist für Münster, was für Berlin der Prenzlauer Berg ist. Nun gut, der Vergleich hinkt, wie alle Vergleiche hinken, aber ganz falsch ist er nicht. Im Hansaviertel wohnten einmal die Leute, die im Münsteraner Stadthafen am Dortmund Ems Kanal arbeiteten. Jetzt ist der Stadthafen die große Vergnügungsmeile in Münster; und das Viertel dahinter wird mittlerweile sehr stark von Studenten und jungen Familien geprägt.
Hauptdurchgangsstraße des besagten Viertels ist der Hansaring, Teil der viel befahrenen Ringstraße, die um die Innenstadt Münsters herumläuft. Unlängst wurden dort zwei große alte Platanen gefällt, um Arbeiten an der Kanalisation und an Versorgungsleitungen zu ermöglichen. Das führte prompt zu einem Aufstand und zur Gründung einer Bürgerbewegung, die sich Platanenpower nennt. Mit Maßnahmen und Aktionen, die ich aus meiner Studentenzeit vor 40 Jahren oder von Greenpeace kenne, sollte das Fällen der Bäume verhindert werden. Unter einem kritischen Blick konnte es scheinen, als sollte hier viel mehr gerettet werden als zwei Bäume.
Letzten Endes mussten die Bäume weichen, immerhin versprach die Stadt, anstelle der zwei gefällten Bäume sechs neue zu pflanzen. Das geschah nun vor ein paar Tagen, und wieder brandete der Protest auf, der die neu gepflanzten Bäume hatten nur drei Viertel des Umfangs, den die Stadt zugesichert hatte.
Seit Monaten frage ich mich, wie ich über das alles denken soll. Und ich schwanke! Manchmal denke ich: Viel Lärm um sehr wenig! Lieber Himmel, Bäume sind doch keine Denkmäler oder Götterstatuen. Sie sind lebendiger Straßenschmuck, der regelmäßig erneuert werden muss. Und damit es übermorgen schöne und gesunde Bäume geben kann, muss man heute den ein oder anderen fällen. Man frage nur einen Forstwirt, der durfte das bestätigen.
Und außerdem: Es gibt so viel Elend und Ungerechtigkeit in der Welt, gegen das man mit Recht auf die Barrikaden steigen kann. Ist es nicht ein bisschen, wie soll ich sagen, kleinmütig oder kleinbürgerlich, sich an die Straßenbäume vor dem Haus zu ketten, während gleichzeitig riesige Wälder für unseren Konsum abgeholzt und verheizt werden. Hat der Protest der Platanenpower nicht etwas vom nimby, vom not in my backyard, also von einem Protest, der sich nur gegen das richtet, was den Protestierenden unmittelbar zu behelligen scheint?
Aber wie gesagt, ich schwanke. Auf der anderen Seite verstehe und schätze ich die Qualität symbolischen Handelns. Tatsächlich wandte sich die Platanenpower in Münster nicht nur gegen das Abholzen von zwei Bäumen, sondern auch gegen die Erweiterung des Viertels und ein damit verbundenes Ansteigen der Verkehrsbelastung. Es ging, wie auch anderswo hierzulande, um die ganz allgemeine und höchst komplexe Frage, wie ein gesundes und lebenswertes Leben in unseren Städten demnächst aussehen sollte. In diesem Zusammenhang waren die beiden Platanen vor allem ein Sinnbild für die Opfer, die einer Nachverdichtung der Städte und einem Anwachsen des Verkehrs gebracht werden. So betrachtet, ist es vielleicht ganz sinnvoll, sich gelegentlich einmal an einen gefährdeten Baum zu ketten, um sehr viel größere Probleme zur Sprache zu bringen.
Nun frage ich mich, was aus meinem Schwanken werden soll. Werde ich irgendwann auf die Seite „Viel Lärm um nichts“ fallen oder auf die Seite „Pars pro Toto, ein Teil für das Ganze?“ Der Rationalist in mir wünschte sich die Kräfte des Widerstands anderswo eingesetzt, der Romantiker in mir schätzt die Hinwendung zu einem konkreten Objekt der Zuneigung.
Sicher bin ich mir allerdings in einem: Was immer in unseren Städten unternommen wird, überall werden Platanen im Wege stehen. Es sieht nicht gut um den gesamtgesellschaftlichen Konsens darüber aus, wie wir in Zukunft leben sollen. Autofreunde und Autohasser, Immigranten und Nachverdichtungsgegner, Late-Night-Shopper und Biomarkt-Kunden bilden immer unversöhnlichere Parteien in etwas, das die Vorstellung vom Bürgerkrieg nachdrücklich verändern könnte.
Mein größtes Anliegen ist es daher nicht, dass irgendeine Partei sich gegen eine andere durchsetzen möge. Erheblich wichtiger scheint mir zu sein, dass alle Auseinandersetzungen, die wir jetzt schon kennen, und erst recht die, die wir noch nicht kennen, mit friedlichen Mitteln ausgetragen werden.