Das Kuhviertel
Oktober 2018
Am Mittwoch letzter Woche war es genau 75 Jahre her, dass die Stadt Münster den ersten Tagesangriff alliierter Bomberverbände erlebte. An diesem Tag starben etwa 700 Menschen, fast alle historischen Bauwerke wurden schwer beschädigt. Doch das war erst der Anfang. Bei Kriegsende war die Innenstadt Münsters, bis dahin eines der besterhaltenen Baudenkmäler Deutschlands, weitestgehend dem Erdboden gleich gemacht.
75 Jahre später besuchen Touristen aus aller Welt Münster, nicht zuletzt, um den historischen Stadtkern zu besichtigen, Domplatz, Prinzipalmarkt, das Rathaus und die Kirchen. Die Stadtführer müssen dann den verblüfften Besuchern erklären, dass das wenigste von allem tatsächlich alt ist; und so ziehen viele Touristen mit der für sie neuen Erkenntnis ab, Münster sei nach dem Krieg bis ins Detail historisch rekonstruiert worden.
Das stimmt natürlich auch nicht. Auch Münster ist einer Neuplanung zur, wie es damals hieß, autogerechten Stadt nicht ganz entgangen. Außerdem haben viele Immobilienbesitzer nach dem Krieg die Chance genutzt, ihr düsteres Häuschen mit Außenklo durch ein modernes Mehrfamilienhaus zu ersetzen. Manche Straßenzüge und Viertel rund um die historische Innenstadt Münsters würden die Bewohner von damals heute gar nicht mehr wiedererkennen.
Eine kleine Ausnahme ist das sogenannte Kuhviertel im Nordwesten der Innenstadt. Es grenzt an den Promenadengürtel und an den großen Platz vor dem Schloss, in dem heute die Universität residiert. Auch hier war vieles zerstört, aber der Wiederaufbau veränderte die Strukturen und Dimensionen der Vorkriegszeit längst nicht so radikal wie anderswo.
Ich lernte das Viertel kennen, als ich dort vor über 40 Jahren eher zufällig eine Studentenbude fand. Der Ort war absolut ideal, nahe an der Universität und gespickt mit ein paar interessanten Kneipen; außerdem bot er alles, was man sonst noch brauchte: Schreibwarengeschäft, Bäcker, Metzger, Lebensmittelhandlung, Haushaltswarengeschäft, Friseur, Pommesbude, Fahrradhändler usw., alles im Umkreis von 100 Metern. Es gab nach zehn Jahren tatsächlich nur einen einzigen Grund für mich, dort wegzuziehen: meine Heirat.
Doch die Zeit ist am Kuhviertel nicht spurlos vorbeigegangen. Und die Veränderungen dort mögen problematisch sein, überraschen können sie nicht. Die kleinen Läden sind nach und nach unter dem Druck der großen Konkurrenz verschwunden. Dafür haben die Kneipen sich vervielfacht, und während das damalige Publikum noch vor allem die Weltrevolution als Lebensziel hatte, verfolgt das heutige eher kurzfristige Ziele wie zum Beispiel, möglichst schnell möglichst viel Alkohol zu trinken und dann die Sau rauszulassen.
Das bedeutet allerdings nicht, dass die nicht feiersüchtigen Bewohner das Viertel fliehen und es gar zu Leerstand kommt. Im Gegenteil. Bei der extrem heiklen Wohnungslage in Münster und den astronomischen Preisen werden auch hier Wohnungen durch Renovierung aufgewertet und anschließend an ein zahlungskräftiges Klientel vermietet.
Auf den Punkt gebracht: Es gibt im Kuhviertel zwei tendenziell gegenläufige Bewegungen; einerseits die allseits bekannte Gentrifizierung, andererseits den weiteren Umbau zur Partymeile mit allen heiklen Begleiterscheinungen.
Genug Voraussetzungen also, das Viertel permanent in schlechten Schlagzeilen erscheinen zu lassen. Tatsächlich gab es vor ein paar Jahren auch einen juristischen Grabenkrieg zwischen Anwohnern und Gastronomen, um die Schließungszeiten und die Verhaltenscodices der Lokale wurde gestritten wie weiland um die Vereinbarungen des Westfälischen Friedens; und eine Zeitlang war sogar eine Doppelstreife aus städtischen Mitarbeitern und privaten Sicherheitsleuten unterwegs.
Aber die Lage ist, zumindest bislang, nicht eskaliert. Vielleicht rührt es von der sprichwörtlichen Gelassenheit der Münsteraner Bevölkerung, dass es inzwischen einen status quo gibt, mit dem alle Beteiligten wenigstens so einigermaßen zurecht kommen. Einige rührige Anwohner betreiben einen Interessenverband, der sich um den Ausgleich der verschiedenen Parteien bemüht.
Allerdings bleibt zu konstatieren, dass mit dem Kuhviertel in Münster wieder ein städtischer Lebensraum seinen alten Charakter und damit viel von seiner sozialen Bindungskraft verliert. Und wir erfahren in Deutschland mit jedem Tag mehr, was ein solcher Verlust für unsere Gesellschaft bedeuten kann.