Konversion

August 2018

Es ist heiß, sehr heiß. Unter meinen Füßen knistert und bricht es, das sind trockene Blätter, die von den hohen, alten Bäumen rieseln. Die martialischen Häuser rechts und links sind verlassen, unbewohnt, irgendwo schlägt ein Fenster. Ich betrete ein Gebäude, in dem sich die Menschen einmal in ihrer Freizeit versammelt haben. Es riecht dumpf, modrig und nach sehr altem Fett. Im ersten Stock liegen skelettierte Vogelleichen auf dem fleckigen Teppichboden. Wahrscheinlich sind die Tiere durch ein Loch im Dach hineingekommen und dann elendig verhungert. Später stehe ich vor etwas, das einmal ein Kino war. Auf den Eingangsstufen wachsen mannshohe Jungbäume, drinnen im großen Saal fallen Gipsplatten von der Decke, die Aufschlagstellen sehen aus wie die Kotplätze gigantischer Vögel.

So, und jetzt Schluss mit diesem etwas prätentiösen Abenteuerroman-Geraune. Ich war nicht in einer amerikanischen Geisterstadt und auch nicht irgendwo in der Nähe von Tschernobyl. Nein, ich durfte bloß eine Gruppe von Stadtplanern bei einem Gang durch zwei Kasernen begleiten. Sie liegen auf dem Stadtgebiet von Münster. Mitte der Dreißigerjahre wurden sie für die damalige Wehrmacht gebaut, von 1945 bis 2010, immerhin ein Menschenalter lang, wurden sie von britischen Truppen genutzt. Und jetzt?

Jetzt ist man dabei, die beiden Areale und ihre Gebäudekomplexe den umliegenden Stadtteilen einzugliedern. Die seit den dreißiger Jahren gewissermaßen „verbotenen Städte“ des Militärs werden zu Wohnsiedlungen ungeplant, als Lebensraum für sage und schreibe 10.000 Menschen. Wie das geschieht? Kurz zusammengefasst: Aus den alten Mannschaftsunterkünften werden Mehrfamilienhäuser, Kantinen und Offiziersclubs werden zu Kitas und Grundschulen, die alten Fahrzeughallen werden abgerissen, um Platz für weitere Wohngebäude, für Geschäfte und Büros zu machen. Auch das marode Kino wird verschwinden.

Doch das alles ist nicht nur ein umfangreiches Unternehmen, es ist auch ein sehr, sehr schwieriges. Ich bin kein Fachmann für Städtebau, aber ich denke, es wäre ein Klacks dagegen, auf der grünen Wiese zu planen und zu bauen. Denn bei der Umgestaltung, Fachausdruck: Konversion der Kasernengelände gilt es unter anderem, den sehr weitgehenden Denkmalschutz zu beachten, veraltete Bau- und Umweltschutzprinzipien den neuen anzupassen, bestehende Grünflächen möglichst zu bewahren, sinnvolle Verkehrsanbindungen herzustellen und seltenen Vögeln nicht die Nistplätze zu rauben. Die Liste könnte ich noch lange fortsetzen.

Was mich bei der Begehung dieser Orte, die bislang immer Unorte waren, am meisten fasziniert hat, ist die Vorstellung, dass hier einmal ein ganzer Stadtteil, oder zumindest der Teil eines Stadtteils, wie ein Raumschiff landen wird. Dann öffnet sich in Lebensräumen, die über Jahrzehnte mehr oder minder organisch gewachsen sind, ein Quartier aus der Retorte. Was gleich die Frage aufwirft: Werden sich dessen Neubewohner auch mit den Altbewohnern des Viertels vertragen? Mit anderen Worten: Wie auch sonst überall, geht es hier ganz besonders um Integration!

Soweit ich sehe, haben die Stadtplaner auch darüber sehr intensiv nachgedacht. Sie sind es ja, die die Voraussetzungen schaffen. Je nach Zuschnitt und Preis der Wohnungen spricht man ein anderes Klientel an. Da gibt es also Möglichkeiten zur Steuerung. Die neuen Viertel könnten zum Beispiel älteren Menschen aus der Nachbarschaft das Angebot machen, in kleinere Wohneinheiten zu übersiedeln, ohne den angestammten Lebensraum zu verlassen. Das wäre mit Sicherheit ein Baustein zur gelingenden Integration.

Zum Schluss noch einmal kurz zurück in die Kaserne. Ganz am Rande der einen steht ein Offizierskasino, das einem noblen englischen Landhaus ähnelt. Auf der Rückseite hat es eine Terrasse, hinter der ein malerisch verwilderter Garten liegt. Hier fieberten einmal kurz deutsche Offiziere dem Krieg entgegen, dann verwalteten mehrere Generationen englischen Militärs das Erbe des Krieges. In ein paar Jahren wird das hier das Bürgerhaus des neuen Viertels sein, ein Ort, an dem Alt- und Neubürger des Stadtteils zueinander finden können. Also setze ich mich auf den zerbröckelnden Rand eines Teiches und genieße für ein paar Minuten diesen versöhnlichen Gedanken inmitten unserer unversöhnlichen Gegenwart.