Corona-Brief Nr. 15
Luxus und Corona. Ein Gespräch mit Prof. Lambert Wiesing (26.7.2020)
Lambert Wiesing ist Professor für Philosophie in Jena. Er hat ein Buch über Luxus geschrieben. Es ist kein Führer durch die Welt teurer Konsumgüter, keine Psychologie der Megareichen, keine moralische Bewertung des Überflusses, sondern eine philosophische Annäherung an etwas, das jeder zu kennen meint, für das es aber bislang keine klare Definition gibt. Nun habe ich den Eindruck, dass die Corona-Pandemie flächendeckend Luxus verhindert oder gar zerstört. Keine aufwendigen Reisen, keine teuren Partys, kein Sterne-Essen und so weiter. Aber stimmt das wirklich? Vernichtet Corona den Luxus? Da frage ich doch mal einen Fachmann.
Ich treffe Professor Wiesing dem Gegenstand unseres Gesprächs entsprechend im Showroom eines Händlers für hochwertige Oldtimer. Wir suchen uns eine ruhige Ecke, gehen auf Distanz und nehmen die Masken ab.
BS: Herr Professor Wiesing, können Sie Ihre Definition von Luxus einmal für nicht-Philosophieabsolventen zusammenfassen?
LW: Vielleicht darf ich vorweg sagen: Mir geht es nicht um „meine“ Definition des Luxus, neben der es zum Beispiel Ihre oder die der Leute hier im Ausstellungsraum geben könnte. In meinem Buch sage ich nicht, was ich persönlich meine, das Luxus ist. Ich habe schon den Anspruch, nach einer sinnvollen Definition zu suchen, die begründbar und in der Lage ist, ein spezifisches Phänomen zu erfassen, für das nur der Begriff des Luxus passend ist.
BS: Indem Sie sich mit der einschlägigen philosophischen Literatur auseinandergesetzt haben?
LW: Ja, natürlich. Allerding muss ich einschränkend sagen, dass es zum Thema Luxus von Seiten der Philosophie nicht allzu viel Vorarbeit gibt. Der Begriff ist in den Geisteswissenschaften – übrigens ganz im Gegensatz zur Wirtschaftswissenschaft – überwiegend negativ besetzt; das Haben von Luxus gilt dort vielen als blanke Verschwendung oder primitives Angebertum; vielleicht rührt von daher eine philosophische Berührungsangst.
BS: Dann sind Sie ein Pionier der Luxusforschung?
LW: Zumindest ist mir bisher keine andere philosophische Monografie zu diesem Thema bekannt.
BS: Gut. Zurück zur Definition. Um es für mich anschaulich zu machen: Sind die Autos hier im Ausstellungsraum Luxus?
LW: Die Frage scheint mir ungünstig gestellt zu sein. Man bekommt so nämlich den Eindruck, Luxus wäre eine Eigenschaft von Dingen. Gegenstände sind aber nicht von sich aus Luxus, sondern sie sind immer Luxus für jemanden. Bleiben wir bei den Autos hier. An denen lassen sich drei Phänomene gut unterscheiden, die leider oft im Alltag alle undifferenziert Luxus genannt werden. Ich meine die Phänomene Komfort und Protz, von dem es Luxus zu unterscheiden gilt. Wenn sich jemand den 1958er Chevrolet Impala dort drüben kauft, weil der diese wunderbare durchgehende vordere Sitzbank hat, so dass man Arm in Arm mit seiner Partnerin oder seinem Partner kruisen kann, dann ist das Auto für seinen Besitzer kein Luxus, sondern etwas, das einen besonderen, sinnlichen Komfort bietet, den nur wenige andere Autos zu bieten haben. Wenn jemand den Impala jedoch kauft, weil er damit – wen auch immer – beeindrucken will, wenn er sich damit selbst in der Öffentlichkeit darstellen will, dann ist das Auto für diese Person kein Luxus, sondern Protzerei; das Auto ist dann ein Prestigeobjekt.
BS: Und wann ist der Impala Luxus?
LW: Nun, wenn es durch den Besitz dieses Autos beim Besitzer zu einer Autonomie-Erfahrung kommt. Das heißt: Wenn jemand den Wagen kauft, um mit ihm etwas zu besitzen und zu benutzen, von dem er selbst meint, dass diese Sache in ihrem Aufwand deutlich erkennbar über ihren schieren Zweck hinausgeht. Der Besitzer selbst ist der Ansicht: Dieses Auto ist zu groß für unseren Straßenverkehr, es verbraucht viel zu viel Benzin, es ist zu sehr verschnörkelt für die Waschanlage, es bietet einen lausigen Bedienungskomfort und von Sicherheit und Zuverlässigkeit keine Spur. Nach den hier und heute herrschenden Vorstellungen ist es also kein zweckmäßiges Beförderungsmittel. Die Luxus-Erfahrung kann entstehen, wenn der Besitzer das nicht nur in Kauf nimmt, sondern wenn er das Auto kauft, um bewusst mit der vernünftigen, richtigen Autowahl zu brechen. Das ist der entscheidende Punkt für die Entstehung eines Luxus-Erlebnisses: Es entsteht aus Trotz gegenüber Richtigkeits-, Angemessenheits- und Effektivitätsvorstellungen. Und genau durch dieses trotzige Ich richte mich nicht nach dem, was man nur braucht kann ein Besitzer sich selbst als ein autonomes Individuum erleben – als jemanden, der über die wunderbare Fähigkeit verfügt, zu vernünftigen Regeln persönlich Stellung zu beziehen.
BS: Und es würde nicht reichen, den Straßenkreuzer einmal für ein Wochenende zu mieten?
LW: Ja, vielleicht. Ich versuche eine Erfahrung zu beschreiben, die dafür verantwortlich ist, dass etwas für jemanden Luxus ist. Wann es bei wem zu dieser Erfahrung kommt, ist schwer vorhersagbar. Da sind Menschen unterschiedlich. Es könnte gut möglich sein, dass jemand mit dem ausgeliehenen Wagen diese Erfahrung macht. Was allerdings ganz sicher nicht dafür reicht, ist die bloße Betrachtung des Wagens – so wie wir ihn jetzt dort drüben stehen sehen. Oder machen Sie gerade die Erfahrung von Luxus?
BS: Nicht im geringsten.
LW: Danke. Wir sehen nicht etwas, das Luxus ist, sondern das für jemanden Luxus sein kann. Luxus entsteht dadurch, dass der Besitz um des Besitzens willen zu einer ästhetischen Erfahrung führt.
BS: Ich darf einmal rekapitulieren? Luxus ist immer nur Luxus für jemand. Aber es gibt doch so viele Dinge, die per se als Luxusgüter gelten. Ich denke nur an die Uhr mit den fünf Buchstaben.
LW: Luxusgüter werden zu einem nicht geringen Teil für Menschen hergestellt, die Luxus mit Protzerei oder Prestige verwechseln. Sie interessieren sich im Grunde wenig für die Dinge, insbesondere nicht dafür, warum sie kompliziert und aufwendig sind; es geht ihnen nur um deren symbolische Wirkung auf andere. Die Dinge dienen dann zur Selbstdarstellung oder bloß zum Zeigen der Kaufkraft. In Falle der besagten Uhr könnte mancher Käufer sich auch ein paar Tausendeuroscheine ums Handgelenk wickeln. Das liefe aufs selbe hinaus, wenn er nur protzen wollte.
BS: Anders herum: Wenn etwas für mich Luxus ist, kenne ich mich gut damit aus?
LW: Notwendigerweise ja, denn ich muss ja beurteilen können, inwieweit die Sache über das Übliche, das Zweckmäßige, das Ökonomische etc. hinausgeht. Dafür muss ich die Sache in ihrer Machart kennen. Die Erfahrung des Luxus setzt deshalb eine gewisse Kennerschaft voraus. Wer etwas für normal hält, wird die Sache nicht als Luxus erleben können.
BS: Dann kann es also Luxus sein, wenn ich meinen Garten mit einem Spaten umgrabe, der Gott weiß wie aufwendig geschmiedet ist und einen Stil aus irgendeinem seltenen Hartholz hat?
LW: Ja, sofern dieser Spaten nicht komfortabler ist, also besser funktioniert als einer aus dem Baumarkt und sie damit nicht ihrem Nachbarn imponieren wollen.
BS: Wenn ich das jetzt richtig verstanden habe, dann fürchte ich, dass ich Ihre Antwort auf meine nächste Frage schon richtig ahne. Aber ich stelle sie trotzdem. Durch die Corona-Pandemie sind, zumindest vorübergehend, viele Dinge unmöglich geworden oder verboten. Kreuzfahrten fallen aus, Geschäfte und Restaurants waren bzw. sind geschlossen. Kann man sagen, dass Corona unser aller Luxusleben beschnitten und verkürzt hat?
LW: Ich denke, Sie ahnen richtig, was ich Ihnen antworten werde. Meine Antwort lautet: Nein. Corona hat eine Menge von Komfort vernichtet, das steht völlig außer Frage. Und es hat die sozialen Voraussetzungen zur Protzerei drastisch eingeschränkt. Wenn der Tennisplatz oder die Bar geschlossen sind, kann ich dort nicht mit meinem neuen Kleid oder meinem neuen Schmuckstück auflaufen, um mich dafür bewundern zu lassen. Aber Komfort und Protzerei sind Phänomene, die sich vom Luxus unterscheiden lassen.
BS: Was also bewirkt Corona?
LW: Nun, ich hoffe, das klingt jetzt nicht zynisch, aber Corona verbessert in vielen Fällen die Voraussetzung für Luxus-Erfahrungen.
BS: Aha! Bitte ein Beispiel.
LW: Gerne. Corona hat jemanden vom Büro ins Home Office verbannt. Statt mittags in die Kantine zu gehen und standardmäßig Essen Zwo zu bestellen, besorgt er sich ein Kochbuch, kauft eine Stunde lang im Supermarkt ein, stellt sich eine Stunde an den Herd und kocht sich etwas, das er vorher noch nie gegessen hat. Das ist nicht komfortabel, er protzt auch nicht damit, sondern er überschreitet einmal bewusst die Grenzen des Praktischen, des Zeitsparenden und des Billigen. Das kann er als Luxus erleben, wenn er es eben bewusst macht, um nicht ein Sklave der Zweckmäßigkeit zu sein. Durch Corona gibt es neue Regeln. Denen muss man folgen, doch man kann es eben freiwillig mit übertriebenem Aufwand machen, um zu erleben, dass man sich in Freiheit entschieden hat, dieser Regel zu folgen.
BS: Spielt Geld dabei eine Rolle?
LW: Geld spielt bekanntlich meistens eine Rolle – und Luxus ist an eine Erfahrung gebunden, die ich mit Besitz mache. Meistens gelangen wir durch Kaufen in den Besitz einer Sache, auch einer übertrieben aufwendigen Sache, aber man kann sie auch selbst herstellen, erben oder übrigens auch stehlen, was man aber nicht sollte. Andererseits kann Reichtum Luxus-Erfahrungen geradezu verhindern. Denn wenn eine Person von Geburt an ein Leben in übertriebenem Aufwand führt, kann sie leicht die unschöne Meinung gewinnen, alles um sie herum sei Standard und normal. Doch etwas, das ich als normal erlebe, erlebe ich nicht als Luxus. Größenwahn und Selbstherrlichkeit machen eine Luxus-Erfahrung unmöglich.
BS: Ihr Rat zu Corona-Zeiten?
LW: Nun, mit Ratschlägen tue ich mich eher schwer. Doch es wurde ja deutlich, dass Luxus-Erfahrungen bei Personen entstehen, die durch Kennerschaft auf eine vernünftige Weise unvernünftig sind. Dies zu können, scheint mir eine Begabung zu sein. Und womöglich ist es nicht die schlechteste Haltung, um gerade solch eine Krisen wie die jetzige zu bewältigen.
Ich will Professor Wiesing für das Gespräch danken, aber im Ausstellungsraum wird gerade der Motor des Impala gestartet. Der Lärm ist ohrenbetäubend. Offenbar möchte jemand den Klang hören. Womöglich, bevor er das Auto kauft, um es niemals zu fahren.