Corona-Brief Nr. 10
Fleisch ist nicht böse. Schlachthöfe als Corona-Sündenorte (21.6.2020)
In meinem ersten Corona-Brief hatte ich meine Sorge geschildert, dass das Virus nicht blind sei. Man hatte mir damals Angst gemacht; ich sei, hieß es, weil über sechzig, Angehöriger einer Risikogruppe. Und tatsächlich bewiesen die ja Zahlen aus den besonders heimgesuchten Regionen, dass für ältere und geschwächte Menschen die Gefahr sehr hoch war, am Corona-Virus zu sterben, während die Erkrankung durch jüngere und eher gesunde Menschen oftmals spurlos hindurchging.
Ich hatte in dem besagten ersten Brief das neue Virus mit der Pest verglichen. Die Pest, so hatte ich damals geschrieben, sei doch gewissermaßen blind gewesen; wer sich damals, vor der Entdeckung der Gegenmittel, damit infizierte, war dem Tode geweiht, unabhängig von Alter und Konstitution. Verglichen damit erschien mir Corona als geradezu wählerisch – und ich gab meiner Angst Ausdruck, seine Wahl könnte auf mich fallen.
Ich habe das in einer frühen Phase unserer Konfrontation mit der Pandemie geschrieben, Anfang April, als die Seuche für mich (wie wohl für viele) noch ein konturloses Gespenst war. Aber ich habe damals bereits entschiedenen Widerspruch erhalten: Ich solle mir die Seuche doch bitte nicht als bösen Geist vorstellt, hieß es, und erst recht nicht als eine Art satanischen Selektierers, der einen bösen Plan verfolge.
Ich habe mir das zu Herzen genommen. Und ich habe in den folgenden Wochen mit Genugtuung beobachtet, dass zumindest wir hier in Deutschland uns um eine möglichst hohe Solidarität gegen das Virus bemüht haben. Es gab (bis auf die leidigen Verschwörungstheorien) kaum Schuldzuweisungen, Frontbildungen und Ausgrenzungen. Fast widerstandslos (man möchte sagen: stoisch) haben wir Unmengen an Schrecklichem akzeptiert und ertragen: Arbeitslosigkeit, Verarmung, Kulturabbau, Vereinzelung, Isolation und die Verwandlung von „Nähe“ in eine negative Metapher, um nur einiges zu nennen. Und akzeptiert und ertragen wurde es durch die verbreitete Überzeugung, dass all dies nötig sei im Kampf gegen etwas, das niemand verschuldet hat und das alle gleichermaßen bedroht.
Das war und ist eine Leistung! Anderswo suchen hochrangige Politiker nach den Schuldigen für die Pandemie, die natürlich immer im Ausland sitzen. Mir dreht sich der Magen um, wenn ich den amerikanischen Präsidenten höre, der sich gegenüber Corona verhält, als sei es eine Art Indianerüberfall.
Dennoch lebe ich seit Wochen in der Sorge, dass die Solidarität gegenüber dem Virus Risse und Brüche bekommen könnte. Konkret: Ich fürchte Ausnahmesetzungen zwischen denen, die alle neuen Regeln befolgen und daraus für sich eine Art „Recht“ auf Gesundheit ableiten, und denen, die aus welchen Gründen auch immer gegen die Regeln verstoßen und so (zumindest im Bewusstsein der anderen) vom Opfer zum Täter der Pandemie werden.
Die Vorkommnisse rund um die fleischverarbeitenden Firmen in Coesfeld und Rheda-Wiedenbrück liefern nun dem regelkonformen Pandemiebürger gleich zwei Gruppen von Menschen als idealtypische Feindbilder. Da sind einerseits die Lebensmittelunternehmer, denen zur Senkung ihrer Preise und damit zur Beherrschung des Marktes jedes Mittel recht ist. Und da sind die Arbeitskräfte aus Osteuropa, die zwar einerseits Opfer dieses Unternehmertums, andererseits aber auch unfähig oder gar unwillig sind, sich in die Lebensregeln unter der Pandemie zu fügen. Ähnlich wie anderswo „Großfamilien mit Migrationshintergrund“ (so die gebräuchliche Beschreibung) missachten sie Abstandsregeln und Quarantäne. In Vor-Corona-Zeiten hätte man ihr „unsoziales“ Verhalten mit ihrer höchst bedrängten Lebenssituation erklärt und entschuldigt, jetzt aber bangen viele Bürger um ihre bedrohte Existenz und fordern von osteuropäischen Fleischarbeitern eine Befolgung derselben Regeln, die sie selbst in Richtung Ruin treiben.
Und es geht noch einen Schritt weiter. In Rheda-Wiedenbrück haben Menschen gegen die Fleischindustrie im Ganzen protestiert. Das wirkte so, als hätten Vegetarier und Veganer jetzt einwandfreie Argumente gegen Schnitzel und Wurst, als habe die Pandemie quasi den Beweis geführt: Wer Fleisch herstellt, befördert die Verbreitung des Corona-Virus; das Virus ist einwandfrei schädlich; also ist auch die Fleischindustrie schädlich und muss weg.
Ich bitte, mich nicht misszuverstehen! Mir geht es hier nicht um eine Position in der Lebensmitteldebatte. Ich möchte vielmehr meiner Sorge Ausdruck geben, dass die Gefahr einer Instrumentalisierung des Virus noch keineswegs gebannt ist. Offenbar wirkt die Pandemie als Katalysator, als Beschleuniger ökonomischer und gesellschaftlicher Prozesse. Und das kann jederzeit den alten Marx’schen Satz auf den Plan rufen, wonach man stoßen soll, was sowieso schon strauchelt oder im Fallen begriffen ist. Oder was man gerne fallen sähe.
Beispiele. Warenhäuser sind Auslaufmodelle: Corona killt Karstadt-Kaufhof. Der Profifußball ist überhitzt und geldgierig: Corona ruiniert die Vereine. Die Integrationsverweigerung und Ghettobildung von Menschen mit Migrationshintergrund schadet dem gesellschaftlichen Zusammenhang: Corona beweist es durch erhöhte Infektionszahlen. Dasselbe gilt für die Fleischindustrie. Kreuzfahrtschiffe und Massentourismus ruinieren die Natur: Corona legt die Schiffe still und sperrt die Strände. Und so weiter.
Ich sage: Solche Gedankenverbindungen sind gefährlich! Ich halte es hingegen für wünschenswert, ja, für dringend geboten, Corona nicht vor irgendeinen Wagen zu spannen. Man wird kaum übersehen können, dass die Auswirkungen der Pandemie höchst verschieden sind. Aber es wäre fatal, die Differenzierungen des Virus mit Bedeutung und Absicht zu hinterlegen.
Das Folgende sage ich als beinahe-Vegetarier: Fleisch ist nicht böse. Böse ist es, Arbeitskräfte durch Subunternehmer in sklavenähnlichen Verhältnissen leben zu lassen. Böse ist es, Verbraucher mit Preisen an die Wursttheke zu locken, die durch ausbeuterische Strukturen und durch die Missachtung des Tierwohls erzielt werden. Diese Missstände gehören abgestellt, auch wenn das Kotelett dann eher drei statt zwei Euro kosten würde. Fleisch an sich aber ist nichts anderes als ein Lebensmittel, über dessen Verzehr in einer freiheitlichen Demokratie jeder selbst entscheiden muss. Böse ist es nicht.