Corona-Brief Nr. 47
Pandemiegewinner 6: Adele (7), Labradorhündin (31. Mai 2021)
Hi, ich bin die Adele. Ich bin sieben Jahre alt, also kein ganz kleines Mädchen mehr. Im Gegenteil, ich weiß, wo der Hase lang läuft, und ich weiß auch, dass das eine Metapher ist, denn für real existierende Hasen interessiere ich mich nicht die Bohne. Ich meine damit vielmehr, dass ich ziemlich genau weiß, wie die Lebewesen ticken, mit denen ich zusammenlebe.
Wir sind ein sogenanntes gemischtes Rudel. Zwei Menschen, meine Menschenmama und mein Menschenpapa, die leider absolut alles zu bestimmen haben, nicht zuletzt, weil ihnen die angeborene Stellung der Daumen an ihren Vorder- bzw. Oberpfoten erlaubt, die Kühlschranktür zu öffnen. Dagegen kommt man als Labradorhündin nicht an, auch wenn man sich noch so viel Mühe gibt, intelligente soziale Interaktion zu betreiben. Das vierte Mitglied unseres Mischrudels ist mein Hundepapa Monty, der schon ziemlich alt und manchmal ein bisschen komisch ist. Ich bin mir sicher, dass er von dem, was momentan so läuft, so gut wie nichts mitgekriegt hat.
Und was läuft? Ja, was denn wohl – natürlich diese Seuche! Jahrelang habe ich mitverfolgt, wie es irgendwelche Krankheiten gab, die die armen Schweine aus unserer Tierfraktion dezimiert haben. Dabei waren die armen Schweine manchmal Schweine, manchmal wahnsinnige Rinder und manchmal verpestete Hühner oder vergrippte Vögel. Alles natürlich hochansteckend, möglicherweise sogar für den ach so wertvollen Menschen, so dass aus Gründen der Vorsicht (und das ist ganz bestimmt kein Zynismus!) immer gleich ganze Populationen von ein paar Tausend Stück Tieren allegemacht werden mussten.
Und jetzt haben wir Corona. Zur Abwechslung mal eine Seuche, die für Tiere so gut wie ungefährlich ist, für Menschen dagegen umso mehr. Wie ich es aber richtig vorhergesehen habe, gehen die Menschen jetzt nicht hin und eliminieren die Infektionsherde durch Massenschlachtung qua Bombenabwurf. Stattdessen stellen sie seit über einem Jahr komplizierte Regeln auf, damit sich möglichst wenige anstecken; überdies haben sie ein Mittelchen erfunden, mit dem sie sich immun machen können. Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn einmal so etwas wie Dogorona ausbricht. Werden sie dann auch so einen Aufwand treiben oder mit einer Träne im Knopfloch am Bürgersteig stehen, wenn unsereins von Leuten in Taucheranzügen mit Pesthüten abgeholt wird, um anschließend irgendwo – aber lassen wir das.
Ich bin sowieso jemand, der lieber positiv denkt. Auch jetzt. Und gerade jetzt. Wenn ich es nämlich so alles in allem betrachte, dann kann ich schon sagen, dass ich für mein Teil von der Seuche profitiere.
Im Ernst!
Es fängt damit an, dass man mehr mit mir spazieren geht. Irre lange Touren, rund um unseren verschlafenen Vorort. Tatsächlich habe ich jetzt Gegenden kennengelernt, in denen Hunde waren, zu deren Duftmarken mir überhaupt nichts einfällt. Ist aber spannend, regt die Gedankentätigkeit an und führt manchmal dazu, dass ich abends auf dem Sofa noch eher einschlafe als meine Menschenmama, obwohl mein Menschenpapa neben mir Erdnüsse isst, für die ich normalerweise alles tue.
Es wird auch besser über mich geredet. Nicht, dass vorher allzu schlecht über mich geredet worden wäre. Ich bin ja, wie gesagt, ein Labrador, also „willing to please“, oder anders gesagt: ein höchst soziales Lebewesen und praktisch den ganzen Tag über damit beschäftigt, Menschen für mich einzunehmen. Nun gut, für mich und meine Belange, als da wären: was fressen, was mehr fressen und noch was fressen. Aber seit der Seuche bin ich nicht nur „süß“, „lieb“ und, mit einem gewissen Abstand, „gehorsam“, sondern werde überdies in immer kürzeren Abständen als wichtiger Player bei der Prävention und Vermeidung depressiver Zustände gefeiert. Ich bin nämlich nicht nur die über jeden Lockdown und jede Ausgangssperre triumphierende Lizenz zum Rausgehen. Nein, darüber hinaus trage ich durch meine konsequent gute Laune und meine vollkommene Abstinenz von Verschwörungstheorien ganz wesentlich dazu bei, die mentale Verfassung der Menschen in unserem Mischrudel zu stärken.
Verstanden? Ich nur so halb. Aber mein Menschenpapa hat sich schon mehrmals vor Bekannten mit genau diesen Worten geäußert, ich hab’s mir gemerkt und übersetzte es mir damit, dass meine Menschen einfach noch ein bisschen mehr als sonst froh sind, so eine wie mich um sich zu haben. Sprich, so einen Ausbund an Lebensfreude, Freundlichkeit, Gleichmut und positiver Einstellung, dem keine Seuche auch nur im Geringsten den gesunden Appetit verderben kann. Es ist einfach schön, mit jemandem wie mir zusammen zu leben, für den die Erkennungsmelodie der Tagesschau, komme darin vor was wolle, immer nur der Hinweis darauf ist, dass jetzt meine abendliche Couchstunde beginnt, in der, wenn ich nicht gerade zu erschöpft bin, manche Erdnuss und mancher Keks für mich abfallen. Seit Corona übrigens, und dafür muss man kein Rechengenie sein, deutlich mehr!
Aber ich will auch nicht allzu blauäugig sein. Es gibt Vertreter meiner Art, die nicht wie ich zu den Gewinnern der Pandemie zählen. Ein paar davon habe ich auf unseren Spaziergängen bereits getroffen, und leider kann ich mir ihre Zahl nur allzu gut auf größere Territorien (Deutschland? Europa?) hochrechnen. Das sind die armen kleinen Welpen und Welpinnen, die sich momentan wohl ziemlich viele Menschen mal eben schnell besorgt haben, um die seuchenbedingte Leere in ihrem Leben mit einem unschuldigen Hundekind auszufüllen.
Dagegen ist nun im Prinzip nichts einzuwenden. Schieben wir die ganze rosa gefärbte Sentimentalität einmal brutal zur Seite, dann bleibt die unverrückbare Tatsache, dass Menschen sich in aller Regel Hunde besorgen, damit es ihnen besser geht. Wohlgemerkt; ihnen, nicht den Hunden! Wir Hunde ersetzen menschliche Partner, die es nicht oder nicht mehr gibt, Kinder, die nie gekommen oder schon wieder gegangen sind. Wir kitten Partnerschaften und Ehen, indem wir für gemeinsamen Gesprächsstoff oder wenigstens für Ablenkung sorgen. Manchmal, und leider viel zu oft, helfen wir sogar dabei, ein Minderwertigkeitsgefühl zu kompensieren, was dann leicht zu Kettenhalsbändern und Bisswunden führt.
Das ist nun einmal so, und manchmal ist es ganz schön übel. Entwickelt sich die Beziehung Mensch-Hund wenigstens zu einer funktionierenden Symbiose, dann ist schon viel gewonnen. Momentan habe ich allerdings die Sorge, dass eine dramatisch ansteigende Zahl von Artgenossen nur angeschafft wird, um ein Problem zu lösen, das mit der Seuche wieder verschwindet. Und dann ist der kleine Hund womöglich nicht mehr die Lösung des Problems, sondern das Problem selbst. Statt auf lange, einsame Spaziergänge, geht Mensch dann wieder in den Biergarten oder nach Malle oder sonst wohin, wo Püppi und Bonzo nur stören. Statt der Austragungsort für Welpen-Intelligenzspiele zu sein, beherbergt das Wohnzimmer wieder die „Jungs“, also Männer in mittlerem Alter, die höchst erfolgreich versuchen, noch lauter zu brüllen als die Zuschauer in den endlich wieder gefüllten Stadien, aus denen das immergleiche Ballspiel übertragen wird, an dem der Hund nicht teilnehmen darf.
Ich hab versucht, ein paar der kleinen Neulinge darauf anzusprechen. Aber für solche Überlegungen waren die nicht unbedingt zugänglich, oder besser gesagt: einfach zu duslig im Kopf, weil immer noch vollkommen überwältigt von der Komplexität ihres neuen Mischrudels und dem Duftmarkenchaos im Park. Außerdem kann ich ja auch rein gar nichts für sie tun. Ich bin nur eine charmante Labradeuse und nicht die Mutter Theresa der Welpen-Fehlkäufe. Ich kann nur hoffen, dass nach dem Ende der Seuche alle hiesigen Hundefreunde und Hundefreundinnen mit ausgeprägtem Helfersyndrom sich eine Zeitlang von unseren armen Kollegen im mediterranen Raum ab- und den hiesigen Problemfällen zuwenden mögen.
Denn dann wird gelten: Hic Rhodos, hic salva!
(Für Nichtlateiner: Hier spielt die Musik, hier rette Hunde!)