Corona-Brief Nr. 48

Moralische Habgier I. Klimawandel (19.7.2021)

In den siebziger Jahren war ich ein junger Mann. Damals bewegte sich die Avantgarde des allgemeinen Bewusstseins in eine einzige, klar erkennbare Richtung, in die meine älteren Geschwister sie Ende der sechziger Jahre geführt hatten. Sie bewegte sich in Richtung Freiheit, Offenheit, Selbstbestimmung, weg von Zwang, Uniformität und Fremdbestimmung. Seitdem hat in meiner Wahrnehmung kaum etwas diese Bewegung gebremst oder umgeleitet, stattdessen bekam sie nur immer wieder Anschub, etwa durch die Revolutionen in den osteuropäischen Staaten, wo die Bevölkerung das westliche Freiheitsbewusstseins adaptierte. Wenn es Einschränkungen der Freiheitsbewegung gab, dann kamen sie von außen, etwa durch die Anschläge fundamentalistischer Terroristen, die verstärkte Kontrollmechanismen zur Folge hatten, etwa im Luftverkehr. Das Fortschreiten des Freiheitsbewusstseins aber konnte auch der Sturz der Twin Towers nicht aufhalten. Momentan beschäftigt sich die Avantgarde des Freiheitsbewusstseins sogar mit einer existenziellen Forderung, die in den siebziger Jahren noch nicht existierte. Jetzt geht es nämlich um die freie, individuelle Wahl des eigenen Geschlechts. Selbst der biologische Zwang des Körpers soll aufgehoben werden.

Aber ich wittere einen Umschlag. Prägen Freiheit, Vielfalt und ein weitgehendes Laissez faire als Idealvorstellungen noch unseren Bewusstseinsalltag? Ist derjenige noch immer und überall auf der sicheren Seite, der öffentlich sagt, dass jeder nach seiner Fasson selig werden solle? – Ja, aber ich sehe auch deutliche Anzeichen einer neuen Sozialkontrolle, eines aktiven Puritanismus, um nicht zu sagen: eines universellen Besserwissens mit einem starken Hang zur Bevormundung. Für das gesamte, höchst komplexe Phänomen habe ich schon vor längerer Zeit den Begriff „moralische Habgier“ gewählt.

Wie und wo äußert sich die?

Die Frage nach dem Wo ist leicht beantwortet. Natürlich vor allem in den sozialen Medien. Millionen Menschen hängen – zumal jetzt, da die Pandemie sie weggeschlossen hat – vor ihren Monitoren und starren durch sie hindurch in die Welt. Ihre Wahrnehmung dort verleitet sie zu Kommentaren, die sie dann auch gleich in einen der dafür massenhaft zur Verfügung stehenden Kanäle fließen lassen.

Kontrollen und Kommentare gab es natürlich auch früher schon. Eine Ikone der Alltagskontrolleure waren die (aus welchen Gründen auch immer) beschäftigungslosen Menschen in den Vorstadtstraßen, die auf ein Sofakissen gestützt in ihren Frontfenstern lagen. Elke Heidenreich hat deren Haltung, die das genaue Gegenteil einer Heraushaltung war, in der kabarettistischen Figur der bis zum Exzess Bescheid wissenden Metzgersgattin Else Stratmann parodiert. Doch während früher die Kommentare über den Falschparker auf der anderen Straßenseite oder den kurzen Rock der Schwiegertochter nur bis zu den Nachbarhäusern reichten, tönen und dröhnen heute die digitalen Kommentare in Sekundenbruchteilen, millionenfach verstärkt, um die ganze Welt.

Das Medium sei die Botschaft, orakelte 1964 der kanadische Philosoph Marshall McLuhan und sprach von der Verwandlung der Erde in ein globales Dorf, organisiert von einem Kommunikationssystem, das damals noch nicht erfunden war, aber etwa dreißig Jahre später mit dem Internet Realität wurde. In diesem globalen Dorf sind nicht nur die Abstände zwischen den Kommunikationspartnern so gering wie die im herkömmlichen, analogen Dorf. Darüber hinaus, so scheint mir, feiern im digitalen globalen Dorf auch die alten Gewohnheiten des Bescheid- und Besserwissens eine gewaltige Renaissance.

Der Bewohner des globalen Dorfs weiß wie der des weiland analogen alles über alle. Es kommt ihm jedenfalls so vor; und womöglich in Folge dieser scheinbar universellen Informiertheit wird bei ihm permanent der Reflex des Für-gut-oder-schlecht-Haltens stimuliert, was dazu führt, dass er beständig einen breiten Fluss von Meinungen ausscheidet. Früher, im vordigitalen Zeitalter, versickerte dieser Fluss ziemlich rasch, sein Rauschen wurde übertönt von Wind und Straßenlärm. Nicht so heute im Netz. Dort wird jede Äußerung, unabhängig von ihrer Qualität, überallhin transportiert und in den meisten Fällen noch viel länger aufbewahrt, als es selbst dem Meinungsäußerer lieb ist.

Nun könnte man noch vermuten, dass dieser gewaltige Tsunami an Meinungen und Kommentaren sich selbst neutralisierte, indem er stets ungefähr gleich viel Ablehnung wie Zustimmung enthält, was ihn im Ganzen wieder zu einer irrelevanten Größe machen würde. Wie lautet doch gleich die kommune Redewendung zur Nivellierung der öffentlichen Meinung? Richtig: Die einen sagen so, die anderen so. Also muss man nicht auf die Leute hören, oder?

Nein, das ist nicht der Fall. Die überwiegende Mehrzahl des veröffentlichten Meinens ist eine Ablehnung, wenn nicht eine Verdammung des Gegenstandes. Genau wie der Typus Else Stratmann wissen die allermeisten Meiner und Meinerinnen im Netz alles besser und stehen sie, zumindest nach ihrer eigenen Überzeugung, moralisch und ethisch weltenweit über denen, denen sie widersprechen. Ich gehe so weit zu sagen: Der Widerspruch erscheint mir allmählich flächendeckend als ein unbedingter, vielleicht auch unwillkürlicher Reflex des informierten (oder formatierten) Menschen im digitalen Zeitalter.

Das alles mag einem unsympathisch vorkommen, aber man könnte es ja meiden, indem man die entsprechenden Seiten nicht anklickt. Doch so einfach ist die Sache nicht abzutun. Das aktuelle Besserwissen ist nicht bloß eine (Kinder)Krankheit des Netzes, sondern ein bestimmender Modus in der gesamten Alltagskommunikation: bei der Arbeit, in der Schule, in der Familie oder einfach auf der Straße. Und mag es auch vielgestaltig scheinen, so stehen doch große Teile davon auf derselben Basis, ähnlich wie die Kommentare von Else Stratmann.

Wenn heute so viele Menschen quasi aus dem rhetorischen Handgelenk heraus geharnischten Widerspruch einlegen, so tun sie das auf einer gedanklichen Basis des Für-schlecht-Haltens. Bei denen, die sich früher aus dem Fenster auf die Straße lehnten, war es der Kodex des (klein)bürgerlichen Bewusstseins. Falsch parken, zu lange Haare oder einen zu kurzen Rock tragen, den Vorgarten verwahrlosen lassen, sonntags bis zum Mittag schlafen; die Erscheinungsformen der Verstöße gegen die alten Sekundärtugenden waren so vielgestaltig, wie die Tugenden eindimensional waren. Die Punkband „Die Ärzte“ hat dem Typus des kleinbürgerlichen Besserwissers und Tratschers mit dem Lied „Lasse redn“ im Jahr 2008 einen Nachruf geschrieben. Man solle diese Leute, heißt es in dem Lied, ihr Ding machen lassen, denn bewusstseinsgeschichtlich handelt es sich dabei doch um eine aussterbende Art.

Weit gefehlt!

Denn jetzt gibt es die neuen Besserwisser in ihren digitalen Fenstern zur Welt ebenso wie auf der Straße. Sie haben den alten Kodex der Untugenden runderneuert und ihm ein zeitgenössisches Erscheinungsbild gegeben. So geht es zum Beispiel nicht mehr um Falschparken als Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, es geht vielmehr um die Präsenz des Autos schlechthin als Zeichen für die umweltschädliche Haltung seiner Besitzer. Am Vorgarten wird nicht die Verwahrlosung der Rabatten bemängelt, sondern das Fehlen von insektenfreundlichen Pflanzen, und die Röcke sind nicht zu kurz, sondern in Kinderarbeit hergestellt.

Ich weiß, ich begebe mich auf heikles Terrain. Höchste Zeit, ein Glaubensbekenntnis zu den Erkenntnissen der Klimaforschung und den Zielen der Klimapolitik abzulegen. Ja, auch ich mache mir Sorgen um unseren Planeten, und ich bin der Ansicht, dass wir unser Verhalten radikal verändern müssen. Nicht nur die Flutkatastrophen sprechen eine deutliche Sprache. Aber mir bereitet auch Sorge, dass die Forderungen zur Verbesserung des Klimaschutzes – so berechtigt sie sind! – den Kodex einer neuen, allgegenwärtigen Alltagsmoral geliefert haben, auf deren Grundlage es im Kommentierungsrausch des analogen wie des digitalen Alltags zu dem kommt, was ich „moralische Habgier“ nenne.

Ich kann mir nicht helfen, aber für mich trägt das Sprechen über den Klimawandel und die Gefährdung des Planeten quasi-religiöse Züge, die ich für gefährlich halte. In diesem Sprechen werden wissenschaftliche Forschungsergebnisse und die daraus erwachsenden politischen Forderungen absolut gesetzt, wie im religiösen Sprechen zum Beispiel die Existenz Gottes. Besagte Ergebnisse und Forderungen rangieren dann oberhalb von nationalen, ökonomischen, politischen oder kulturellen Traditionen und Regeln. Es geht in der Klimadebatte vielfach nicht darum, eine bestimmte Lesart der Verhältnisse gegen andere Lesarten durchzusetzen – auf demokratischem Wege, wie es unsere Verfassung vorsieht; vielmehr tritt die Lesart von der global bedrohten Schöpfung so auf, als sei alles andere Sprechen obsolet. Die Rettung der Welt gehe allen anderen menschlichen Aktivitäten auf diesem Planeten voraus – verständlicherweise! –, weil sie schließlich die Voraussetzung dafür sei.

Ich wiederhole mich: Ich sehe keinen überzeugenden Grund, den Erkenntnissen und Forderungen der Klimaforschung und der Klimabewegung zu widersprechen. Ich bin kein Klimaleugner (was eigentlich heißen müsste: Klimawandelleugner). Ich versuche, mein Teil zu einem besseren Umgang mit unserem Planeten beizutragen.

Aber!

Aber ich wehre mich gegen den universellen Ausbruch einer moralischen Habgier, die aus den Forderungen des Klimaschutzes die Werkzeuge eines permanenten Bescheid- und Besserwissens in allen Lebenslagen schmiedet. Die Wucht, mit der gegen den Gebrauch von Plastiktüten ebenso wie gegen den von Verbrennungsmotoren und überhaupt gegen eine Unzahl von Alltagsbetätigungen gesprochen wird, erfahre ich zunehmend als ähnlich jener Wucht, mit der Fundamentalisten aller Couleur auftreten, die neben dem ihren keinen anderen Gott und keine andere Lesart der Welt zulassen. Fundamentalismus aber fürchte ich, ehrlich gesagt, noch etwas mehr als den Klimawandel.

Der Katalog der kleinbürgerlichen Sekundärtugenden, mit dem ich in den sechziger Jahren groß geworden bin und von dem ich mich in den siebzigern verabschieden konnte – sollte er tatsächlich zurückkommen als eine moralische Habgier auf der Basis eines neuen, universellen Tugendkatalogs nach Maßgabe des CO2 Ausstoßes? Natürlich muss unser Planet gerettet werden! Aber ich denke, er wird nur gerettet durch gute Politik. Der Ausbruch einer universellen moralischen Habgier und eines aggressiven Puritanismus schaden nach meiner festen Überzeugung der Bewegung mehr, als dass sie ihr nutzten. Wenn der Klimaschutz all den Herrn und Frau Stratmanns, die sich, aus welchen Gründen auch immer, bloß besser wähnen und geben möchten als ihre Nachbarn, die Argumente und die Sprache liefert, wird er sich letzten Endes mehr Feinde als Freunde machen. Die universelle moralische Habgier schadet vor allem – der Moral.

(wird fortgesetzt)