Corona-Brief Nr. 44
Drei Großpackungen Verständnis (1. Mai 2021)
Zum Tag der Arbeit unter Corona verteile ich heute drei Großpackungen Verständnis.
Erste Großpackung
Ich verstehe vollkommen die Prominent*innen aus Film und Fernsehen, die sich mit ironisch-sarkastischen Kommentaren (#allesdichtmachen) zur aktuellen Seuchenbekämpfungspolitik via YouTube zu Wort gemeldet haben.
Die Gründe: Bei der Handlungsweise dieser Menschen ist zunächst ihre (finanziell gut abgepufferte) Blasenexistenz zu berücksichtigen. Weder leiden sie unter beengten Wohnverhältnissen, noch sind sie den Zumutungen des öffentlichen Nahverkehrs ausgesetzt. Wenn sie arbeiten, dann an sogenannten Sets oder Locations, an denen – vollkommen richtiger Weise!! – die Seuchenschutzmaßnahmen derart penibel eingehalten werden, als wäre die Infektion mit dem Virus in jedem Fall unmittelbar tödlich.
Ich vermute, dass diese durchaus privilegierte Existenz, in der man eventuellen Bedrohungen leicht aus dem Weg gehen kann, in den betreffenden Damen und Herren das Gefühl einer gewissen Unverwundbarkeit stimuliert und daraus folgend das satirische Gemüt geweckt haben. Wichtiger noch erscheint mir allerdings ein anderer Befund. Die Liefers, Tukur, Becker et alii sind in ihren Film- und Fernsehproduktionen immer wieder auf der Suche nach Schuldigen und finden Sie – in den Bereichen von Autorität und Obrigkeit. Von wegen, der Mörder ist immer der Gärtner! Das war früher. Heute sitzen die Bösewicht*innen im Tatort habituell hinter großen Schreibtischen und titelbewehrten Namensschildern. Der moralische Leitsatz all dieser Produktionen lautet: Wo Macht ist, muss auch Dreck am Stecken sein.
Folglich muss jemandem, der seit Jahr und Tag im Tatort ermittelt, die Vorstellung in Fleisch und Blut übergegangen sein, dass überall dort, wo Schlimmes passiert, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Autoritäten schuld daran sind. Amtsmissbrauch aufzudecken ist für die Betreffenden ein unwillkürlicher Reflex, der auch gerne mal so lange unreflektiert anhält, wie es braucht, einen Videoclip gegen die Coronamaßnahmen zu drehen. Ich habe dafür vollstes Verständnis. Es handelt sich um eine deformation professionelle, wie sie jeden ereilen kann.
Zweite Großpackung Verständnis
Ich verstehe vollkommen die Initiative der zwölf europäischen Fußballvereine, eine eigene Liga zu gründen.
Die Gründe: Zunächst einmal muss unbedingt gesagt werden, dass der Plan nicht neu war. Beim FC Bayern, der jetzt seine Hände sehr populär in Unschuld wäscht, waren entsprechende Überlegungen schon vor Jahren angestellt worden, damals besonders betrieben vom langjährigen Manager U.H. Stärker aber noch entschuldet die Vereinspräsidenten und Manager der Umstand, dass ihnen durch die Pandemie die wöchentliche Erinnerung daran gestrichen worden ist, dass Fußballstadien so aussehen, wie sie aussehen, weil sie für den Besuch von mehreren Zehntausend real existierender Zuschauer konstruiert wurden.
Aber jetzt ist es passiert: Aus den Augen – aus dem Sinn! Wenn schon ich mich allmählich daran gewöhne, dass einem Traumtor bloß noch ein paar hallende Schreie folgen, die mehr nach Schmerz als nach Freude klingen, wie soll dann bei den Herrn Vereinspräsidenten, die Fußball seit geraumer Zeit nur noch in Form von Geschäftsbilanzen wahrnehmen, die Erinnerung an jene Menschen gewahrt bleiben, für die Fußball etwas anderes (und mehr?) als ein Verschieben von Ablösemillionen ist. So viel mnemotechnische Brillanz kann man den Leuten doch wirklich nicht zutrauen. Und so ist es für mich vollkommen verständlich, wenn sie nicht absehen konnten, dass ihre Aktion zur Gründung einer Mega-Liga zum Zwecke des kontinuierlichen Geldscheffelns einen gewissen Volkszorn auslösen könnte. Wer von ihnen konnte sich denn ernsthaft vorstellen, dass man mit einem Plakat um den Hals, auf dem sinngemäß steht: „Farbige Menschen sind doof“, in den Straßen von Harlem keine Begeisterung erntet?
Nun, jetzt wissen Sie es.
Dritte Großpackung Verständnis
Ich verstehe die Macher der Bild-Zeitung bei ihrem Bemühen, möglichst jeden Tag eine ebenso aufwieglerische und nörgelnde wie zugleich brunzdumme Schlagzeile zu verfassen.
Die Gründe: Die Seuche ist ein gewaltiger Katalysator. Sie beschleunigt Entwicklungen, die sich bislang im Tempo X vollzogen haben, innerhalb kürzester Zeit auf 10 X. Dazu gehört unter anderem auch der Verlust an Einfluss und Deutungshoheit, den die Printmedien erleiden. Wenn der Masse der Seuchenbetroffenen die jeweiligen Inzidenzwerte, Schulschließungen, Geschäftsbesuchsvoraussetzungen etc. durch das Radio halbstündlich und durch die digitalen Medien minütlich bis sekündlich vermittelt werden, wer wartet dann noch nach Art des Medienbenutzungsbiedermannes bzw. der Medienbenutzungsbiederfrau auf das Klippklapp, mit dem am Morgen eine Zeitung durch den Briefschlitz geschoben wird, in der alles wahrlich wahrlich von gestern ist?
Also habe ich großes Verständnis auch für die Macher der Bild-Zeitung, die inzwischen noch den letzten hirnrissigen, blödsinnigen, irregeleiteten, aber auf jeden Fall irgendwie aufputschenden Gedanken (wenngleich der Begriff „Gedanke“ wohl unangemessen ist) zur Schlagzeile machen, gedruckt in Buchstaben, größer als jeder Finger, mit dem man noch einigermaßen gefahrlos in der Nase bohren könnte. Aus dem antiautoritären Unterstrom unserer Gesellschaft (siehe oben #Tatort) schöpft die Bild-Zeitung die schmutzigsten Klumpen, um sie für das Gold der freien Meinungsäußerung auszugeben.
Aber wie gesagt: Ich habe dafür Verständnis. Eine Reihe von Berufen steht momentan unter Verschwindensdruck, darunter meiner, leider, und der des japsenden Skandaljournalisten. Wir alle strecken uns momentan nach der Decke. Wenn darf es da wundern, wenn das jämmerlich aussieht?