Corona-Brief Nr. 34
Independance Day (25. Januar 2021)
Wer meine bisherigen Corona-Briefe gelesen hat, der weiß, dass ich mich um einen moderaten Tonfall bemühe. Die Zeiten sind schwierig, die „Zumutungen“ sind enorm, da passiert es leicht, dass der Lautstärkeregler überdreht wird und die Wortwahl misslingt. Das ist nur zu verständlich, aber manchmal auch ärgerlich. Schon ein paarmal bin ich nach einem Fernsehbericht oder einer Zeitungslektüre an den PC geflogen, um eine scharfe Erwiderung zu schreiben. Ich habe auch ein paar Seiten voller Wut und Aufregung verfasst, aber ich habe die Texte nicht beendet, geschweige denn publiziert. Darauf bin ich beinahe stolz, denn manchmal ist es schwieriger und anstrengender, die Klappe zu halten als sie aufzureißen.
Mitte letzter Woche habe ich mich dann wieder einmal geärgert; aber erst jetzt, nach ausreichender Abkühlungszeit, unternehme ich den Versuch, meinen Widerspruch in einem möglichst gesitteten Text zu formulieren.
Was war passiert: Unmittelbar hintereinander wurden in einer prominenten Nachrichtensendung des Fernsehens zwei Stellungnahmen von Oppositionsführer*innen des Deutschen Bundestags gesendet. Ich lasse die Namen und Parteizugehörigkeiten weg, denn um die geht es mir nicht. Gerade waren die Beschlüsse zur Fortsetzung des allgemeinen Lockdowns und zur Modifikation („Verschärfung“) der Corona-Maßnahmen bekannt geworden; da forderten die beiden übereinstimmend und in ganz ähnlichem Wortlaut, als wäre es abgesprochen, eine „Perspektive“ für die Menschen, um ihnen Sicherheit zu geben und damit sie planen können.
Das ist im Grunde nachvollziehbar. Ich hätte auch gern eine Perspektive und viel mehr Sicherheit, um planen zu können. Wenn es nach mir ginge, hätten die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsident*innen einen verbindlichen „Corona-Fahrplan“ vorgelegt. Dieser Fahrplan würde die folgenden Daten enthalten:
- Exakter Termin zur Beendigung des Lockdowns und damit zur Beendigung meines unfreiwilligen Daueraufenthalts im Corona-Elfenbeinturm.
- Unwiderrufliche Bestätigung meiner höchst optimistischen Buchung einer Ferienwohnung an der holländischen Küste im September.
- Impftermin für mich und meine Frau inklusive Anfahrtskizze und ggf. Erstattung für die Kosten des ÖPNV.
- Ort, Datum und Uhrzeit der regionalen Tschüss Corona-Feier, auf der offiziell verkündet wird, dass sich ab sofort und für ewig und drei Tage niemand sich mehr Sorgen um eine eventuelle weitere Pandemie machen muss.
Leider haben die Kanzlerin und alle Verantwortlichen mir diese Perspektive NICHT vermittelt. Stattdessen sitze ich weiter in meinem Home Prison und lausche auf die Berichte zum Terraingewinn der neuesten Corona-Mutationen sowie auf die Berichte vom wegen Nachschubproblemen schleppend vorankommenden Impffeldzug. Meine Perspektive ist nach wie vor die aus dem Fenster im zweiten Stock, und am Horizont sehe ich nicht die Rückkehr zur Normalität, sondern nur ein paar unentschlossene Schneewolken.
Schön ist das wahrlich nicht. Schön ist anders! Und ich habe Verständnis für jeden, der zur Mutter oder einer Stellvertreterin läuft und mit Wut und Trotz und Trauer in der Stimme eine „Perspektive“ fordert. Ich verstehe, wenn man sich angesichts der Bedrohung durch ein unsichtbares Virus, mit dem man einfach nicht ins Gespräch kommen kann, andere Personen sucht, um mit ihnen über das eigene beschädigte Leben zu verhandeln. Zum Beispiel die Kanzlerin. Und ich weiß auch: Es ist ein unschöner, aber bekannter menschlicher Zug, den Überbringer schlechter Nachrichten mit der Nachricht zu identifizieren und ihn (oder sie) stellvertretend totzuschlagen.
Aber das war nie richtig und wird es nie sein. Nach meiner festen Überzeugung werden wir nicht von einer meschuggenen Obrigkeit mutwillig gequält. Wir werden vielmehr angegriffen, wir: die ganze Menschheit, wie in Roland Emmerichs Bombastfilm „Independence Day“ aus dem Jahr 1996. Die Angreifer kommen zwar nicht aus dem Weltall und mit großen Raumschiffen, sondern aus der biologischen Vielfalt unserer eigenen Fauna, und womöglich haben wir selbst sie freigelassen. Aber das ändert nichts daran, dass sie das gleiche Ziel haben, nämlich der Menschheit gewaltigen Schaden zuzufügen. Sie sind wohl nicht „böse“ in einem human-moralischen Sinne, so wenig wie Emmerichs außerirdische Invasoren, über deren Moralvorstellungen wir nichts sagen können. Die Viren kämpfen nur, wie Darwin es so wirksam beschrieben hat, um das Überleben und die Ausbreitung ihrer Art. Dabei sind sie allerdings (und leider) ebenso wie die Invasoren in „Independence Day“ alles andere als dämlich! Tatsächlich optimieren sie momentan durch Mutationen ihre Verbreitungsgeschwindigkeit und damit ihre Fähigkeit, uns zu schaden.
Ob sie uns schlussendlich als Gattung vernichten können, so wie die Angreifer in „Independence Day“ es planten, weiß ich nicht. Ich hoffe natürlich: Nein. Aber mit der Nachhilfe durch mehrere Dutzend einschlägiger Filme und Bücher kann ich mir einigermaßen vorstellen, was passiert, wenn eine hoch entwickelte Gesellschaft eine dramatische Erhöhung des Krankenstandes in der Bevölkerung erfährt. Ich kann, aber ich will mir eigentlich nicht vorstellen: dass Lieferketten zusammenbrechen, dass die Sicherheit des öffentlichen Verkehrs und die Energieversorgung nicht mehr gewährleistet sind und dass die Angst um das schiere Leben das allgemeine Verhalten diktiert (um es vorsichtig zu formulieren und böse Worte wie Bürgerkrieg zu vermeiden).
Und deshalb will ich persönlich von der Kanzlerin und „der Politik“ (nebenbei gesagt: ein scheußlicher Ausdruck, der da in Mode gekommen ist), keine „Perspektive“, sondern vor allem Mut und Geschick im Kampf gegen die Angreifer. Dieser Kampf endet nicht am Ende irgendeines Fahrplans, sondern mit der Niederlage oder der Ausrottung des Gegners. Keinen Tag früher, egal welche Perspektive von wem auch immer vermittelt worden ist.
Ja, auch ich leide sehr unter den Begleiterscheinungen dieses Kampfes. Kurz zur Erinnerung: Ich bin ein Freiberufler, dem die Einnahmen wegbrechen. Und ich leide auch darunter, dass mein Beitrag zu besagtem Kampf sich nicht heroischer vollzieht als durch absolutes Stubenhocken und die tägliche Desinfizierung von FFP2-Masken im Backofen. Vielleicht kann unsereiner sich demnächst als Freiwilliger melden, wenn es darum geht, die ungeduldigen Wartenden in der Impfschlange durch lustige kleine Geschichten oder schlüpfrige Witze bei Laune zu halten.
Aber bis dahin werde ich von „der Politik“ keine „Perspektive“ verlangen, weil mir das geradezu fahrlässig naiv erscheint. Wir sind momentan mit der vielleicht größten biologischen Bedrohung konfrontiert, der die gesamte Menschheit je ausgesetzt war. Es geht uns ähnlich wie vor Millionen Jahren den Sauriern, als sich nach einem Meteoriteneinschlag der ganze Planet verdunkelte und abkühlte. Und obwohl wir im Gegensatz zu den Sauriern unsere Kanzlerin, Professor Drosten und Biontech Pfizer besitzen, können auch wir von niemandem einen Fahrplan verlangen, in dem steht, wie genau es mit uns weitergeht.
Was wir tun können, das ist: helfen beim Kampf gegen das Virus und hoffen auf unseren Independance Day. Und, das sage ich nach einer äußerst schwierigen Überwindung meiner Scheu vor sentimentalen Symbolhandlungen: eine Kerze ins Fenster stellen.