Corona-Brief Nr. 33
Pandemiegewinner 5: Felix (46), Versicherungsmathematiker
„Nein, ich bin nicht soziophob. Obwohl ich noch von Glück sagen kann, wenn Leute mir dieses Wort an den Kopf werfen und nicht gleich den Soziopathen auspacken. Soziophob klingt ein bisschen, wie soll ich sagen, ein bisschen schonender. Jedenfalls ist es nicht so ein Totschläger wie Soziopath. Den ich mir allerdings gelegentlich auch anhören darf.
Und dann natürlich, wie sollte es anders sein: Autist. Seit diesem Film mit Dustin Hoffman weiß ja nun wirklich jeder, was ein Autist ist. Und mittlerweile ist es fast schon die Regel, dass man Leute als Autisten bezeichnet, bloß wenn sie ein bisschen weniger messy sind als der Durchschnitt. Oder Leute wie mich, die – um Gottes Willen! – ganz gerne allein sind.
Momentan noch beliebter als Autist ist allerdings Asperger. Asperger ist der totale Renner. Das ist ein Wort, mit dem man seinem Mitmenschen eins über den Schädel ziehen kann, also im übertragenen Sinne natürlich, und dabei gleichzeitig als gebildeter und differenzierender Mensch dasteht. Ich bin mir sicher, seit Asperger dermaßen Mode ist, durchforsten die Leute regelmäßig ihren Bekanntenkreis, um zu entscheiden, wem sie demnächst mit dieser Diagnose eins auswischen sollten.
Als es bei mir anfing, das heißt, als die Leute anfingen, mir mit ihrem Gerede auf den Geist zu gehen, war von dem ganzen Medizinzeug noch nicht so viel die Rede. Außerdem bin ich auf dem Dorf großgeworden, da hießen Kinder wie ich noch Stubenhocker. Oder Langweiler, Spaßbremse, Laumeier. Oder Kalmäuser, was heute kommt noch jemand kennt. Und die Therapievorschläge beschränkten sich im Wesentlichen auf den Satz: Der Junge muss mal raus an die frische Luft.
Was allerdings nicht heißt, meine Kindheit wäre eine gute Zeit für mich gewesen. Im Gegenteil! Ich höre mir natürlich lieber dieses ganze möchtegernpsychologische Gerede an, als von irgendwelchen Wozuauchimmerberechtigten in bester Absicht runter auf die Straße und in die Fänge des Mobs gejagt zu werden. Nein, vielen Dank. Ich bin natürlich 1000 mal lieber ein erwachsener soziophober Nerd als ein armer kleiner Stubenhocker, der zum Zwecke seiner psychischen Gesundung an die gehirnamputierten Schläger von nebenan verfüttert wird.
Und um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich bin, im Gegensatz zu vielen in meiner Generation, gerne erwachsen. Erwachsen zu sein bedeutet für mich, dass ich in meinem Zimmer sein kann, ohne dass jeden Moment die Tür aufgeht und jemand unerfreuliche Gutachten über meinen Charakter vorträgt oder dunkle Prognosen über meine Zukunft anstellt. Natürlich tut es mir leid, dass ich meinen Eltern keine Schwiegertochter und keine Enkelkinder besorgt habe. Aber das haben meine Brüder und Schwestern getan. Zu Genüge übrigens, wie ich hinzufügen möchte. Der Genpool meiner Eltern wird sich in die Zukunft reproduzieren, und zwar mit sehr viel Geschrei und starken Willensäußerungen, besonders bei gemeinsamen Mahlzeiten im Familienkreis. Da bin ich nun wirklich aus der Pflicht.
Ja, erwachsen zu sein bedeutet für mich vor allem, dass ich meinen Lieblingszustand, nämlich allein zu sein, nicht dauernd verteidigen muss. Und Sie werden es sicher schon erraten haben: Ich bin Single. Ich habe das nicht „gewollt“; das hat sich auch nicht „zufällig so ergeben“ – nein, das ist einfach eine natürliche Folge meiner Veranlagung. Jedes Lebewesen hat sein ihm angestammtes Biotop, und meines ist nun mal eines, in dem außer mir niemand sonst ist. Infolge habe ich als Single ein „richtiges“ Leben geführt, jedenfalls ein angemessenes. Und wenn man bedenkt, dass mittlerweile mehr als die Hälfte der Leute, die einmal geheiratet haben, sich wieder scheiden lassen, weil es eben nicht „richtig“ für sie war, dann gehöre ich ja wohl nicht zu den Loosern. Oder?
Von Beruf bin ich übrigens Versicherungsmathematiker. Richtig, der Traumjob für soziophobe Nerds. Sie dürfen jetzt gerne mal ganz lange und laut lachen. Oder sind Sie doch so höflich, mich zu fragen, was ich da mache?
Nun, um es auf den Kern herunterzubrechen: Ich berechne Wahrscheinlichkeiten; und als Resultat aus diesen Wahrscheinlichkeiten ergibt sich zum Beispiel, dass Sie, wenn Sie in einem bestimmten Ort in Deutschland von einem Cabrio auf einen SUV umsteigen, in diesem Jahr etwas weniger für ihre Versicherung bezahlen, während es im letzten Jahr ein bisschen teurer geworden wäre.
Klingt langweilig, oder? Ja, genau so langweilig wie die Partie Lasker gegen Capablanca, Petersburg 1914. Vorausgesetzt, man interessiert sich nicht für Schach. Tut man es doch, dann kann man sich daran mehr begeistern als andere Leute an sechs Dutzend Hollywoodfilmen. Und ich interessiere mich nun einmal für Zahlen.
Aber ich habe mich verplaudert. Verzeihung! Ich sollte ja über Corona sprechen. Dieser Schriftsteller hat mich darum gebeten. Wir sind vor ein paar Millionen Jahren in dieselbe Schulklasse gegangen, und der Mann hat noch etwas bei mir gut. Er gehörte damals nämlich zu jener erschreckend kleinen Minderheit meiner Mitschüler, die nicht dauernd hinter mir her war, um mir handgreiflich mitzuteilen, was sie von mir hielt. Tatsächlich bestand diese Minderheit eigentlich nur aus ihm. Vielen Dank dafür. Ich glaube allerdings, er hat damals auch von mir profitiert. Denn eigentlich war er genau so ein Stubenhocker wie ich. Aber er hatte ein gut geöltes Mundwerk und konnte sich aus den heiklen Situationen immer ganz gut herausreden. Und außerdem gab es ja mich als das Mobbing-Opfer Nummer Eins.
Nun, was soll ich über Corona sagen? Dass es mich nicht betrifft? Das sage ich besser nicht. Damit mache ich mich nämlich nicht beliebt. Allerdings, der Wahrheit die Ehre: Es stimmt. Ich arbeite seit Jahren im Home Office. Eigentlich habe ich immer schon im Home Office gearbeitet, spätestens seit dem Abitur. Meine Arbeit bekomme ich durchs Netz, in Form von Daten, mit denen ich rechne, und die Ergebnisse meiner Berechnungen schicke ich wieder durchs Netz an die Zentrale. Wenn dort jemand mit mir sprechen will, ruft er mich an. Aber ich werde nicht oft angerufen. Ich muss jetzt auch nicht zoomen. Die verantwortlichen Leute bekommen meine Daten, und was sie dann entscheiden, damit habe ich nichts zu tun. Also gilt für mich: keinerlei berufsbedingte Ansteckungsgefahr.
Dass ich alleine lebe, habe ich schon gesagt. Woraus sich ein noch weiter dramatisch gesenktes Infektionsrisiko ergibt. Mir trägt niemand ein Virus ins Haus, das dann mit mir kuscheln kann. Und wenn Sie vermutet haben, dass ich in keinem Sportverein bin, in keiner Wanderergruppe, keinem Kegel- oder Fanclub oder dergleichen, dann haben Sie richtig vermutet. Meine Abende verbringe ich nicht in „feucht fröhlicher Runde“, und niemand rückt mir im verschwitzten Sportleibchen auf den Pelz. Dumm für Corona.
Bleiben noch die notwendigen Einkäufe. Aber die halten sich bei mir in engen Grenzen, wenn es darum geht, ihretwegen das Haus zu verlassen. Kochen zum Beispiel ist nicht so mein Ding. Bisher gab es dafür den Pizzaboten und das China-Taxi, seit Corona gibt es Lieferando mit stark erweiterter Auswahl, und der Getränkeservice bringt jetzt auch Lebensmittel. Und die sonstigen Einkäufe? Ich sage das in aller Deutlichkeit: Ich bin Internet-Käufer seit der allerersten Stunde, und ich komme damit blendend zurecht. Wer das nicht tut, für den habe ich nicht viel Verständnis. Mit einem PC auf dem Schreibtisch befindet man sich im größten Warenhaus, wobei erfreulicherweise die anderen Leute fehlen, die einen anrempeln oder hinter denen man sich an der Kasse die Beine in den Bauch steht. Ich fand das von Anfang an grandios. Und jetzt erst recht!
Laut sagen durfte ich das allerdings bislang nicht. Jedenfalls nicht überall. Amazon und Konsorten sind ja bekanntlich Pfui! Doch unter Corona ist das ganz anders geworden. Denn jetzt machen alle mit, natürlich nur unter Zwang, ja klar, aber ich höre jetzt immer öfter, dass das Kaufen im Internet womöglich kein böswilliger Vernichtungsfeldzug der Sozialpathen und Autisten gegen den Einzelhandel ist, sondern ganz einfach das, was alle Leute in Zukunft machen werden. So, wie die Leute vor 100 Jahren vom Pferd aufs Auto umgestiegen sind. Das ging damals auch nicht gegen die Pferde persönlich.
Ja, ich weiß! Sie wollen schon seit einiger Zeit mit dem Satz raus, also sag ich ihn für Sie: Coronazeit ist Paradieseszeit für Soziophobiker, Autisten und Nerds. Stimmt! Endlich machen wir Idioten mal alles richtig. Bleiben schön zu Hause, beschäftigen uns nur mit Sachen, die mausetot sind oder gar nicht wirklich existieren und jedenfalls nicht infektiös sind. Und mehr noch: In der Coronazeit ist der Stubenhocker sogar das role model für den Rest der Gesellschaft. Das leuchtende Vorbild! Wofür man uns früher verspottet und verachtet hat, dafür bekommen wir demnächst vielleicht das Coronaverdienstkreuz, einen Orden für Menschen, die sich in der Pandemie besonders um die Gesellschaft verdient gemacht haben, indem sie sich nicht in Gesellschaft begeben haben. Lang lebe der Stubenhocker!
Ich kenne diese Gedanken. Und ich höre sie gelegentlich ausgesprochen, mir gegenüber. Seit Corona stehe ich nämlich, jedenfalls für meine Verhältnisse, geradezu im Mittelpunkt des Interesses. Ohne darum gebeten zu haben, werde ich in WhatsApp Gruppen aufgenommen; und dann melden sich sogenannte Bekannte bei mir, Leute, zu denen ich wer weiß wie lange keinen Kontakt mehr hatte, nur um mich zu fragen, wie gut ich denn mit der neuen Lage zurechtkomme. Dabei sind das natürlich keine richtigen Fragen. Die Leute wollen nur, dass ich sage, wie glücklich ich jetzt darüber bin, endlich kein Außenseiter mehr zu sein. Und das sage ich dann auch, möglichst lustig und aufgekratzt, damit dieses blöde, smileyverzierte Gequatsche so schnell wie möglich beendet ist.
Aber, Ihnen im Vertrauen gesagt: Ich lüge. Ich bin nämlich gar nicht glücklich darüber, kein Außenseiter mehr zu sein. Und zwar aus zwei Gründen.
Grund Nummer Eins: Diese Pandemie wird vorbeigehen. Hoffentlich. Und ich bin mir ganz sicher, sie wird genug Menschen zurücklassen, die dann mit einer bis ins Frenetische und Apokalyptische gesteigerten Begeisterung die Fußballstadien, die Konzertsäle, die Diskotheken und die Marktplätze füllen werden. Sie werden einander beständig drücken und knutschen, sie werden 1000 Hände am Tag schütteln und 3000 Wangenküsse verteilen, richtig nasse, nicht nur so hingehauchte, und sie werden im Fünfminutentakt Verabredungen treffen, bei denen sich noch mehr von ihnen auf noch engerem Raum drücken und drängen und knutschen und küssen können. Die ganze Welt wird ein einziger, ununterbrochener Flashmob mit Körperkontakt sein. Und ich, ich werde dann wieder der Stubenhocker sein, der soziophobe Außenseiter, über den man sich mit einer neuen und noch viel umfassenderen Lizenz lustig machen kann. Wer weiß, vielleicht gibt es sogar Pogrome gegen Leute wie mich.
Nein. Entschuldigung. Das war natürlich nur ein Scherz. Haha. Aber der zweite Grund, der ist echt. Vorsicht, es wird jetzt ein bisschen philosophisch: Die Freude am Alleinsein beruht, wie der Name schon sagt, darauf, dass man alleine ist. Dabei könnte es demjenigen, der gerne alleine ist, vollkommen schnuppe sein, was die anderen tun und warum sie es tun, solange sie es nur ohne ihn tun. Aber! Es ist ihm aber nicht schnuppe. Denn wenn alle dazu verdonnert werden, so allein zu sein wie er, und er plötzlich gezwungen wird, allein zu sein, obwohl er es schon freiwillig ist, dann ist es aus mit der Freude am Alleinsein!
Mit meiner Freude daran ist es jedenfalls seit Corona vorbei. In einer Welt voller Stubenhocker will ich kein Stubenhocker mehr sein. Für mich war das Alleinsein mein Lebtag lang ein Akt der Verweigerung. Ich habe den Fußballverein verweigert, die Diskotheken, die Demos, die Clubs und die Zweisamkeit in jeder ihrer Spielarten. Ich bin, was ich bin, indem ich allein bin, und zwar freiwillig. Freiwillig! Corona aber hat meine Widerstandsakte in eine Anpassungsorgie verwandelt.
Und wissen Sie, was? Seit kurzem spüre ich das aberwitzige Verlangen, meine gut aufgeräumte und glänzend durchorganisierte Wohnung zu verlassen, auf die Straße zu laufen, ohne Maske natürlich, und gegen irgendeine Distanzregel zu verstoßen. Notfalls, indem ich der nächstbesten Frau, die infrage kommt, um den Hals falle und ihr einen Heiratsantrag mache.
Sie sagen jetzt, da würde ich mir zu einem Strafzettel auch noch einen Korb holen? Seien Sie sich nicht so sicher. Ich könnte mir gut vorstellen: die Frau wird Ja sagen! Und das meine ich ganz im Ernst. Denn ich werde ihr anbieten können, was kein Mann meines Alters einer Frau anbieten kann. Nicht Liebe oder Luxus, das kann jeder. Ich habe etwas anderes, etwas Seltenes und Wunderbares zu bieten: einen gewaltig großen, freien Raum, den sie besetzen, den sie möblieren und ausschmücken und in dem sie heimisch werden darf. Praktisch mein ganzes ungelebtes Leben.
Aber wahrscheinlich werde ich doch lieber zu Hause bleiben.“