Corona-Brief Nr. 32

Pandemie und Demokratie (10.1.2021)

Der Aphorismus ist allgemein bekannt: Die Demokratie ist nicht die beste aller denkbaren Regierungsformen, sondern die am wenigsten schlechte. Von Churchill soll der Satz stammen: Die Diktatur ist ein stolzes Schiff, das im Sturme sinkt, die Demokratie ein elendes Floß, das den Sturm übersteht. Eine höchst intelligente und sachkundige Freundin hat mir klargemacht, dass Demokratie nicht (wie ich in meiner Naivität angenommen hatte) der Beglückung aller Menschen diene, sondern der Verhinderung von Machtmissbrauch. Demokratie, und das sage ich jetzt, ist Anarchie als geordnete und gut organisierte Gesellschaftsform.

Demokratie ist eine Maßnahme gegen die Napoleons dieser Welt in allen ihren Spielarten von durchgeknallt bis sadistisch. Man kann einen Präsidenten wie D.T. wählen, man kann ihn aber auch (hoffentlich) wieder abwählen. Demokratie soll Unterdrückung verhindern. Politische Beschlüsse werden zwar durch Mehrheitsentscheide herbeigeführt, gleichzeitig aber sollen Minderheiten geschützt werden. Inzwischen kann man sogar den Eindruck gewinnen, dass hierzulande der Minderheitenschutz beinahe höher rangiert als der Wille der Mehrheit. Was sicherlich nicht ganz schlecht ist. Die europäische Aufklärung hat den Menschen des Westens den Weg zur Individualität gezeigt, die entwickelte Demokratie baut ihn sechsspurig aus.

Aber was taugt die Demokratie in der Pandemie? Die letzten Wochen haben gezeigt, wie schwer es in unserem Gemeinwesen fällt, auf Basis der bestehenden Gesetze zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und dem Recht auf Schutz vor körperlicher Gefährdung abzuwägen. Tausend Gegner der Coronamaßnahmen (ich vermeide das Wort „Coronaleugner“, siehe Corona-Brief Nr. 17 https://burkhardspinnen.de/unwort-coronaleugner/) dürfen einen Teil des öffentlichen Raumes beanspruchen, um darin ihre Überzeugung kundzutun; andererseits haben etliche Zehntausende Anwohner und Passanten das Recht, vor Menschen geschützt zu werden, von die bewusst ein hohes Infektions- bzw. Übertragungsrisiko eingehen. Ich verstehe die Richter, die sich für das Grundrecht des Menschen auf freie Meinungsäußerung entschieden haben. Ich verstehe aber diejenigen, die sagen, dass die Freiheit der Meinungsäußerung dort endet, wo das Recht auf körperliche Unversehrtheit beginnt.

In einer Demokratie wie der unseren gilt auch, als einer der Grundpfeiler des Rechtes auf Selbstbestimmung, dass Haus und Körper des Menschen unter einem besonders hohen Schutz stehen. Mal eben mit einem SEK durch die Haustür zu brechen, um nachzusehen, ob jemand in seinem Wohnzimmer eine Masern- oder Coronaparty veranstaltet, entspricht nicht unseren demokratischen Gepflogenheiten. Gut so. Und wer die Injektion einer körperfremden Substanz partout nicht erlauben will, den darf man dazu nicht zwingen. Selbst wenn Eltern aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen die medizinische Behandlung ihres todkranken Kindes ablehnen, bedarf es eines großen medizinischen und juristischen Aufwands, um gegen ihren Willen zu handeln.

Nun haben die Impfungen gegen das Corona-Virus begonnen. Es wird, so hoffe ich jedenfalls, Freiwillige genug geben, um irgendwann die sogenannte Herdenimmunität herbeizuführen. Was aber geschieht mit denen, die sich einer Impfung, aus welchen Gründen auch immer, widersetzen? In unserer Demokratie wird darüber diskutiert. In einer Diktatur bekämen sie einen bösen Blick und einen wenig subtilen Hinweis auf Umerziehung- oder schlimmere Lager, und vermutlich würden sie dann bald ihre Hemdsärmel aufrollen. Hierzulande werden sie zunächst einmal keinen Impfpass keine Impfbescheinigung bekommen und ansonsten ihr Leben unbehelligt weiterführen dürfen. Auch ihr Leben als potentielle Überträger der Krankheit.

Ich habe mich erkundigt. Noch gilt, dass es keine Schuldfeststellung bei Infektionen mit Corona-Viren gibt. Wer weiß, dass er HIV-infiziert ist, und ungeschützten Geschlechtsverkehr hat, macht sich der Körperverletzung schuldig. Für den Träger des Coronavirus gilt das nicht, wenn Aerosole aus seinem Mund die Schleimhäute eines zu nahe stehenden Mitmenschen aufsuchen.

Was also kann, was wird man im Kontext der Demokratie mit Menschen tun, die eine Impfung und damit ein Ausscheiden aus dem Kreis der potentiellen Überträger ablehnen? Ein bisschen gruselt es mich, wenn ich über diese Frage nachdenke. Es ist, als würde ich am Drehbuch eines Zombiefilmes mitarbeiten (siehe Corona Brief Nr. 9: https://burkhardspinnen.de/zombiefilme-corona-ante-rem/). Wohlgemerkt, eines Filmes, in dem die Zombies so moderat auftreten, dass die Ordnungsorgane noch die Chance haben, gesetzeskonform zu handeln und nicht gleich darangehen, ganze Städte durch Bombardierung als Infektionsherde zu eliminieren.

Ein Mitglied des Ethikrates hat nun vor ein paar Wochen ein Binnenszenario entworfen, das in besagtem Film über eine „demokratische“ Pandemie schon für einigen zusätzlichen Thrill sorgen könnte. Professor Wolfram Henn präsentierte öffentlich das Gedankenspiel, das Impfverweigerer bei einer eigenen Erkrankung auf eine Intensivbehandlung verzichten könnten, um die das medizinische Potenzial für diejenigen freizuhalten, die sich an der allgemeinen Immunisierung der Bevölkerung beteiligen wollen.

Die Folge dieser Äußerung: der wohlbekannte „Sturm der Entrüstung“. Man brauchte die Ohren nicht besonders zu spitzen, um das Wort „unmenschlich“ herauszuhören.

Natürlich hat Henn es „nicht so gemeint“. Seinem hippokratischen Eid verpflichtet, wird er sicherlich jeden behandeln, der medizinischer Behandlung bedarf. Und es steht auch absolut nicht zu erwarten, dass es obrigkeitlichen Maßnahmen gibt, nach denen Impfverweigerer die medizinische Versorgung entzogen wird. Ich mache mir da keine Sorgen. Wir leben (hoffentlich noch) in einem demokratischen Rechtsstaat. Und in einem solchen tut man so etwas nicht.

Sorgen mache ich mir allerdings darüber, dass zu Zeiten der Pandemie unsere bislang so eifrig gepflegte Minderheitenfürsorge in eine Krise kommen könnte. Toleranz zu üben gegenüber den Intoleranten, Solidarität mit den Unsolidarischen zu praktizieren, und das in großem Ausmaß, das könnte eine Belastungsprobe für unsere Demokratie werden. Den Schutz der Individualität hier und da über den Schutz der Gemeinschaft zu stellen, das mag in den heiteren Zeiten vor Corona immer wieder durchgegangen sein, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen kam. Corona aber ist ein aggressiver Katalysator. (Ich bin mir des Widerspruchs bewusst!) Die Praxis des Minderheitenschutzes könnte einem sehr unangenehmen Stresstest unterworfen werden.

Ich bleibe allerdings optimistisch. Das ist das größte Geschenk, das wir uns momentan machen können. Es kostet kein Geld, aber Kraft. Mein Optimismus sagt mir, dass sanfter sozialer Druck, in kleinen Dosen verabreicht, die Zahl der Impfverweigerer im Laufe der Zeit verringern wird. Vieles Angenehme und Beliebte in unserem Staat befindet sich in Privatbesitz; und dort gilt der Wille des Besitzers. Ohne Impfnachweis nicht ins Fußballstadion zu dürfen, nicht in die Disco etc., das wird womöglich den trotzigen (oder verrückten) Stolz vieler Widerständler brechen. Und vielleicht, so meine optimistische Hoffnung, wird es ganz individuell und unauffällig geschehen, ohne Aufstände und Gewaltaktionen, die das elende, aber vergleichsweise sichere Floß unserer Demokratie am Ende doch noch in Gefahr bringen könnten.