Corona-Brief Nr. 14
Pandemiegewinner 1: Thorben, Manager bei einer Kaufhauskette (19.7.2020)
„Die Leute sind so schräg drauf, die glauben, wir würde das Spaß machen. Weil ich ein Monster bin oder so. Weil ich Freude daran habe, Menschen ins Verderben zu schicken. Ich bin so einer, der sich zum Frühstück gehacktes Glas auf den Toast streut und dazu heißes Motoröl trinkt. So einer bin ich. Und infolgedessen gibt es für mich kein größeres Vergnügen, als eine Filiale zu schließen.
Ich mache das natürlich immer an einem Samstag. Um die Leute zu überraschen. Damit es wie ein Schlag vor den Kopf wirkt. Sie kommen am Samstagmorgen in ihre Filiale, und klar, die Lage ist schon seit Wochen nicht gut, seit Monaten, und alle haben Angst. Aber die Woche über gab es keine neuen Nachrichten, und jetzt ist erst mal Wochenende, da kann man dann vielleicht einen Tag lang an was anderes denken als daran, dass man demnächst vor die Tür gesetzt wird.
Pustekuchen. Am Samstagmorgen wird es angekündigt: außerordentliche Betriebsversammlung nach Geschäftsschluss. Da geht dann die Panik um, und richtig, um Punkt 18 Uhr klettere ich auf ein improvisiertes Podium in der Cafeteria und sage meinen Satz: „Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ich habe Ihnen leider eine traurige Botschaft zu überbringen.“ Mehr muss ich gar nicht sagen, die Leute wissen dann sofort Bescheid, dass sie jetzt rausfliegen. Eigentlich wissen sie schon Bescheid, wenn die Betriebsversammlung angekündigt wird. Aber sie bewahren sich so eine klitzekleine Hoffnung. Vielleicht reduzieren wir ja nur das Personal, und es trifft nicht sie, sondern jemanden aus der Abteilung nebenan. Aber wenn ich „traurige Botschaft“, sage, dann ist klar, dass wir den Laden komplett dicht machen. Also brauche ich gar nicht mehr zu sagen. Das wäre auch völlig sinnlos, denn jetzt geht das Geschrei los, und was immer ich noch sagen würde, es wäre bei dem Lärm überhaupt nicht zu verstehen.
Und an sowas habe ich Freude. Na klar. Ich finde das ganz toll, da vorne zu stehen und für die Leute das Gesicht ihrer persönlichen Katastrophe zu sein. Sie haben jetzt die Scheiße am Hals, und ich bin das Gesicht dieser Scheiße. Wem das keine Freude bereitet, wen das nicht in eine, wie soll ich sagen, in eine ganz besondere Erregung versetzt, den möchte ich sehen. Dass ich dafür bezahlt werde, ist der reinste Witz. Eigentlich müsste ich dafür bezahlen, dass diese Leute mich mit einer Inbrunst hassen, mit der sie vorher womöglich noch niemanden gehasst haben.
Ja, so einer bin ich. Ich mache das gerne. Das ist mein Lebenselixier. So eine Filiale zu schließen, das ist ein purer Willkürakt von solchen Sadisten, wie ich einer bin. Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass da nur noch Geld verbrannt wird. Es ist vollkommen unwichtig, ob so ein Laden das Geld verdient, mit dem er seine Mitarbeiter bezahlt, oder ob er Schulden machen muss, um sie zu bezahlen. Marktwirtschaft? Nie gehört. Sowas gibt es nicht. Wer einmal jemanden angestellt hat, der muss ihn sein Leben lang behalten und bezahlen, ganz egal ob Kunden kommen oder ob es Aufträge gibt oder ob die Konkurrenz einen platt macht.
Schon vergessen? Wir leben im totalen Kommunismus, wir haben die Planwirtschaft. Nichts muss funktionieren, aber alle kriegen ihr Taschengeld, ihre billige Wohnung und jeden Tag ein großes, billiges Stück Fleisch. Dafür sind die da oben zuständig, sollen sie sehen, wie sie das bewerkstelligen.
Entschuldigung. Ich musste mir das mal von der Seele reden. Natürlich bin ich kein Monster! Mein Gott, ich verstehe die Leute doch. Wer will schon seinen Job verlieren, womöglich mit einpaarundfünfzig, so dass er keinen neuen findet. Ich bin demnächst auch in dem Alter, ich weiß, wie sich das anfühlt. Aber wir versuchen doch nur, dass Schiff über Wasser zu halten; und wenn dafür ein paar von Bord müssen, dann ist das bitter, aber es gibt einfach keine Alternative. Sollen etwa alle absaufen? Das ist doch keine Option.
Ich sage Ihnen das jetzt ganz offen und ehrlich: Ich war schon ein paarmal kurz davor, meinen Job hinzuschmeißen. Ich habe ein bisschen was gespart. Ich könnte mir einen kleinen, alten Bauernhof kaufen, unrenoviert natürlich, das würde ich alles selbst machen. Ich würde mein eigenes Gemüse anbauen und vielleicht ein paar Kühe halten. Oder Schweine. Weiß der Teufel. Jedenfalls wäre ich dann raus aus der Maschine. Mir schlägt das nämlich schwer auf den Magen, dass ich das Gesicht der Katastrophe bin. So habe ich mir im Studium mein Arbeitsleben nicht vorgestellt. Aber ich habe Frau und Kinder. Die haben sich an einen gewissen Lebensstandard gewöhnt. Wenn ich denen morgen sage: Hurra, wir ziehen aufs Land, besorgt euch schon mal die entsprechenden Klamotten, was glauben Sie, was ich dann zu hören kriege. Das wollen Sie gar nicht wissen. Ich übrigens auch nicht.
Ja, und dann haben wir Corona gekriegt. Mir war praktisch am ersten Tag klar, was das für unsere Kette bedeutet. Wir ziehen jetzt den großen Plan zum Gesundschrumpfen durch. Den Masterplan, den wir seit Jahren in der Schublade haben. Alle unrentablen Kaufhäuser schließen, die Immobilien verticken und die Sahnestücke damit aufpimpen. Als Dependancen des Internethandels. Parole: Im Laden anprobieren, im Netz bestellen. Billig, schnell, sicher. Ich persönlich weiß nicht, ob mir das gefallen würde. Aber man muss das jetzt machen, das sagen alle Fachleute, sonst wird man von Amazon und Konsorten mit Haut und Haaren gefressen.
Also ziehen wir das jetzt durch. Mit Corona. Und werfen Sie bitte nicht mit Steinen nach mir, aber das erleichtert mir meinen Job um beinahe 100 Prozent. Für Corona hat nämlich jeder Verständnis. Corona hat nichts mit fiesen Bossen zu tun, mit Nieten in Nadelstreifen. Corona ist wie die Pest. Corona hat uns der liebe Gott geschenkt oder der Teufel oder wer sonst für die Schöpfung zuständig ist. Von mir aus auch die Chinesen, Hauptsache, man kann nicht mich dafür verantwortlich machen. Ich bin jedenfalls nicht mehr das Gesicht der Katastrophe, das ist jetzt Corona.
Wissen Sie, was mir neulich passiert ist. Ich komme in eine unserer Filialen, warum wohl?, das können Sie sich denken, und da kommt mir ein Vertreter der Belegschaft entgegen, streckt mir die Hand entgegen und sagt: „Wir sitzen ganz schön in der Scheiße, was?“
Verstehen Sie das? Er hat „wir“ gesagt. Wir, er und ich und alle anderen. Und auf der Belegschaftsversammlung haben die meisten auch so reagiert. Im Sinne von: Wir haben’s abgekriegt, wir sind am Arsch. Wir alle zusammen. Mich haben sie angesehen, als wäre ich kein Monster, sondern einer von ihnen und als stünde ich auch kurz vor dem Rauswurf. Das war ein schönes Gefühl. Ich sage das ganz unumwunden: Das war ein schönes Gefühl. Das hat mich für vieles entschädigt.
Und vielleicht werde ich ja tatsächlich rausgeworfen. Keine Ahnung. Ich halte das nicht für ausgeschlossen. Und wenn, dann würde vielleicht doch noch etwas aus dem alten Bauernhof. Aus dem Gemüsegarten und den Schweinen. Meine Familie dürfte dann nicht meckern. Wäre ja nicht meine Entscheidung. Wäre alles Corona.“