Corona-Brief Nr. 11
Henner im Glück. Die Unschuld des Verlierers (28. Juni 2020)
Henner K. wird demnächst fünfzig. Sein Leben hat sich nicht immer an seine Pläne gehalten. Das Lehramtsstudium schmiss er nach ein paar Semestern, weil er den nicht sonderlich originellen Traum hatte, mit seiner Lieblingsbeschäftigung Geld zu verdienen. Einige Jahre lang mäanderte er durch die IT-Branche. Als Spieleentwickler hatte er kein Glück, die Sicherheitsberatung in einer großen Firma war ihm zu langweilig, also eröffnete er seinen eigenen Computerladen. Der lief eine Zeitlang ganz gut, doch dann gab es Streit mit einem Partner, und Henner konnte vor Glück sagen, dass er ohne Schulden aus der Sache herauskam. Da war er Mitte dreißig und hatte von Computern endgültig die Nase voll.
Aber es musste Geld her. Henner lebte mit einer Frau zusammen, und die beiden hatten eine kleine Tochter. Er jobbte in Kneipen, bis er mit einer kleinen Erbschaft ein Bistro eröffnete, in einem Viertel, in dem gerade die Gentrifizierung begann. Es folgten die besten Jahre, das Bistro florierte, aber Henner wurde übermütig. Weil er das Viertel inzwischen so gut zu kennen glaubte, stieg er in zwei kleine Modeläden und eine Galerie ein und übernahm sie schließlich. Aber er hatte sich verkalkuliert, die Läden liefen schlecht, die Galerie war ein Desaster, und dem Bistro bekam es gar nicht, dass es sie mit seinen Erträgen über Wasser halten musste.
Auch privat hatte Henner Schwierigkeiten. Die Frau und er trennten sich. Die Tochter war gerade dreizehn; sie gab ihm die Schuld, zuletzt waren sie nicht gut miteinander ausgekommen. Frau und Tochter zogen in eine andere Stadt, Henners Beziehung zu ihnen verschlechterte sich weiter.
Dann kam Corona. Die Modeläden mussten schließen, das Bistro ebenfalls; Henner beantragte die neu geschaffenen Kredite und reduzierte das Personal. Wochenlang konnte er nichts anderes tun als zuzusehen, wie das geliehene Geld wieder verschwand und kein neues hereinkam. Als die Läden wieder öffnen durften, blieben die Kunden weg, und in das Bistro, dessen Tische jetzt weit auseinander standen, verirrten sich kaum noch Gäste.
Henner sitzt jetzt mehrere Stunden am Tag in seinem Bistro, meistens an einem der wenigen Tische draußen auf der Straße, die ihm das Ordnungsamt neuerdings erlaubt hat. So sieht er den Verfall seiner Unternehmungen aus der ersten Reihe. Gelegentlich kommt einer seiner Bekannten oder einer der anderen Ladenbesitzer aus dem Viertel bei ihm vorbei, sie reden dann miteinander und tragen dabei ihren Mundschutz. Einen Kaffee oder einen Espresso lehnen die meisten ab.
Henner hätte allen Grund, verzweifelt zu sein. Er kann die Mieten für das Bistro und die Läden nicht mehr bezahlen, und dass die Vermieter ihm nicht kündigen, liegt nur daran, dass sie keinen Nachmieter finden würden. Er kann auch den Unterhalt für seine Tochter nicht mehr zahlen. Ihre Mutter hat sich beschwert, aber was soll sie gegen Henners Begründung sagen, man könne einem nackten Mann keinen Euro aus der Tasche holen? Die jungen Kellnerinnen im Bistro haben sich anderen Jobs gesucht, und er hätte es gar nicht wieder öffnen können, wenn nicht eine Nachbarin eingesprungen wäre, praktisch ohne Bezahlung und nur, weil ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fiel.
Vielleicht ist Henner auch verzweifelt, derart, dass er Zweifel daran hegt, seine Lage könnte sich in absehbarer Zeit wieder bessern. Aber unglücklich ist er nicht. Er kümmert sich um das wenige, um das er sich noch zu kümmern hat, er freut sich über die kleinen Gespräche draußen vor dem Bistro, abends mailt er Bekannten, zu denen der Kontakt schon fast abgerissen war. In einem Secondhandbuchladen im Viertel hat er sich ziemlich viele Bücher besorgt, durchweg moderne Klassiker in billigen Taschenbuchausgaben, all das, was er damals für sein Lehramtsstudium hätte lesen sollen, aber nie gelesen hat. Jetzt liest er, wenn er vor seinem Bistro sitzt, oder spät abends bei sich Zuhause, und selten fällt ihm das Buch vor drei Uhr morgens aus der Hand.
Henner wundert sich selbst darüber, dass sein Unglücklichsein sich derart in Grenzen hält. Warum, denkt er, laufe ich nicht schreiend durch die Straßen? Warum betrinke ich mich nicht, warum suche ich keinen Streit mit Fremden? Warum schlafe ich, wenn mir das Buch aus der Hand gefallen ist, tief und fest, manchmal bis weit in den Morgen? Er weiß: Das passt nicht zu seiner Lage. Seine Laune ist viel zu gut. Seltsam, denkt er. Vielleicht ist das ein Zeichen, vielleicht kommt diese unpassende Ruhe über einen, wenn alles zu Ende geht.
Ich könnte Henner eine andere Erklärung anbieten. Womöglich begrüßt und genießt etwas in ihm, klammheimlich und ihm selbst gar nicht recht bewusst, dass die Pandemie ihn aus seinen Geschäften geworfen hat. Ja, es geht ihm schlecht, er ist so gut wie pleite – aber allen geht es schlecht, alle sind so gut wie pleite. Und das Wichtigste: Diesmal ist es definitiv nicht seine Schuld, dass ihm etwas misslingt; diesmal hat er nicht im gnadenlosen Kampf aller gegen alle versagt; diesmal hat er sich nicht verspekuliert, war nicht zu gutgläubig, zu zögerlich oder zu risikofreudig. Nein, es ist über ihn gekommen, wie es über alle gekommen ist. Er persönlich war nicht gemeint, also kann er sich mit gutem Gewissen zu den anderen Leidtragenden setzen, ohne dass er ihre Missbilligung, ihre Häme oder ihre Schadenfreude einstecken und erdulden müsste.
Könnte es so sein? Könnte es sein, dass Henner seine Entlassung aus der Individualität genießt, seine Entlassung aus der permanenten Verantwortung für alles und jedes, die ihm immer als normal erschien, obwohl er so darunter litt? Ist das jetzt vielleicht die große Pause, von der er geträumt hat und die er sich nie hat wünschen dürfen? Dieses große allgemeine Anhalten, Stillstehen. Ein Abpfiff, der die Kontrahenten in einen Feierabend ohne Konkurrenz entlässt. Der sie alle in dieselbe Ecke schickt, in der die Verlierer sitzen, die sich nicht mehr als Verlierer fühlen müssen, weil sie unter ihresgleichen sind und es keine Gewinner mehr gibt.
Ich weiß nicht, ob ich mit Henner über meine Einschätzung seiner Seelenlage sprechen sollte. Womöglich will er so etwas gar nicht hören. Außerdem ist er gerade beschäftigt. Sein Smartphone klingelt, und auf dem Display erscheint ein Foto seiner Tochter. Eigentlich bedeutet das nichts Gutes, die Chancen stehen hoch, dass das folgende Gespräch im Streit enden wird. Trotzdem nimmt er es ohne das geringste Zögern an. „Hallo, Liebes!“, sagt er. „Wie schön, dass du mich anrufst. Da hat der Tag gleich etwas Gutes.“ Danach spricht er kaum noch, er hört nur zu, gelegentlich brummt er etwas, mal eher erstaunt, mal eher zustimmend.
Ich lasse ihn lieber alleine.