Corona-Brief Nr. 13
Epidemiologie, Autorität und Sorge (12. Juli 2020)
Ein ganzes Volk beschäftigt sich mit einer Wissenschaft. Nun ja, vielleicht nicht ein ganzes Volk, aber sehr viel mehr Leute als gewöhnlich. Sie beschäftigen sich mit Epidemiologie. Das ist, wenn man es wörtlich aus dem Griechischen übersetzt, die Lehre von dem, „was über das Volk kommt“. Kein Wunder also, dass ein Volk, über das die Epidemie Corona gekommen ist, sich für diese Wissenschaft interessiert.
Dabei artikuliert das Volk sein Interesse so, wie es den Gewohnheiten einer Mediengesellschaft entspricht. Etwa verwandelt es eine Reihe von Epidemiologen in eine Mischung aus Superhirn, Popstar und Guru. Allen voran den Professor Drosten von der Charité. Man mag den Kopf darüber schütteln, aber die Angelegenheit ist einen zweiten Gedanken wert.
Ich hole ein bisschen aus. Amtsträger haben es heutzutage schwer. Das ganze Modell „Autorität“ ist nach etlichen 10.000 Jahren selbstverständlichen Bestandes in die Krise gekommen. Lange galt: „Einer weiß es besser und hat deshalb das Sagen“, aber mittlerweile ist es eher so, dass jeder glaubt, selbst am besten Bescheid zu wissen, und sich deshalb nicht reinreden und erst recht nicht rumkommandieren lässt. Zumindest für sich selbst und seinen Hinterhof ist ein jeder der einzig kompetente Fachmann und in Folge auch der (möglichst) uneingeschränkte Herrscher. Die höchst kritische Aufmerksamkeit der Allgemeinheit richtet sich mittlerweile mehr gegen die Autoritäten, die den Staat repräsentieren, als gegen diejenigen, die ihn infrage stellen oder gar bekämpfen. In meiner Kindheit war antiautoritäres Bewusstsein Avantgarde; mittlerweile ist es Folklore. Man sehe sich nur den „Tatort“ am Sonntagabend an: Der Mörder ist fast immer ein Amtsträger, eine Autorität, die Machtmissbrauch betreibt; und angesichts ihrer schult der Fernsehzuschauer sein universell antiautoritäres Bewusstsein.
Anders jetzt, unter Corona. Die allermeisten Bürger sind keine Mediziner, und selbst unter den Medizinern sind die Fachleute für ansteckende Krankheiten eine kleine Gruppe. Mit anderen Worten: Über das momentan Wichtigste in unser aller Leben wissen wir beinahe ausnahmslos nicht Bescheid. Das ist neu und verstörend. Die universelle und habituelle Besserwisserei stößt in Sachen Pandemie rasch an ihre Grenzen. Verkehrsregeln, Steuergesetze, Wirtschaftsverordnungen etc. – da hatte jeder von uns seine fest fundierte Meinung. Beim Thema SARS-CoV-2 aber müssen wir ziemlich bald passen, obwohl eine Infektion mit dem Virus uns wesentlich existenzieller betreffen würde als eine Veränderung des Bußgeldkatalogs für Regelverstöße im Straßenverkehr.
Also ist man allenthalben wieder fein still und spitzt die Ohren, wenn jemand zur Sache redet, der sich als Autorität alter Bauart ausweist, zum Beispiel durch einen Professorentitel der Charité. Politik gilt längst schon als Ansichtssache, und es gibt so viele Ansichten wie Bürger. Aber Corona ist ein definitiv böser Feind, der die Menschheit ausrotten will; und also tut man gut daran, keine Meinung zu haben, sondern sich hinter diejenigen zu scharen, die am ehesten herauskriegen können, wie der Feind so tickt und wie man ihm am besten beikommen kann. Und diejenigen, das sind jetzt die Epidemiologen.
Erleben wir also eine kleine (und möglicherweise zeitlich begrenzte) Renaissance der Autorität, und ist ihr neues role model der Epidemiologe? Es scheint mir jedenfalls so, als würden Politikerinnen und Politiker momentan vor allem danach bewertet, inwieweit sie sich in ihrem Handeln an wissenschaftlichen Tugenden und Standards orientieren. Es geht jetzt um Ruhe und Gründlichkeit, um Vorsicht in der Einschätzung von Wahrnehmungen, aber auch um Beharrlichkeit bei der Verteidigung dessen, was sich nach vertrauenswürdigen und erprobten Verfahren als unhintergehbare Gewissheit erwiesen hat. Von der aktuellen Politik unter Corona ist damit eine ordentliche Portion Dauerwahlkampf, Marketing, Selbstprofilierung, Klienteldenken und Schaumschlägerei abgefallen. Und Kanzler oder Kanzlerin wird demnächst womöglich, wer sich am meisten dem Bild der wissenschaftlichen Autorität angenähert hat.
Wie aber steht es nun um die Regeln und Verbote, die aus den Forschungsstätten der Epidemiologie via Politik auf uns gekommen sind? Ich kann nicht für alle sprechen, nur für mich; und da antworte ich: Sie vergrößern meine Sorge. Und genau das sollen sie wohl auch.
Ich will das zu erläutern versuchen.
Eine ansteckende Krankheit, die sich zur Epidemie aufgeschwungen hat, bekämpft man besten, indem man den Leuten verbietet, in Kontakt zu ihren Mitmenschen zu treten. Etwas vereinfacht gesagt: Bliebe definitiv jeder Mensch für sich allein in seinem Zimmer, fielen bald schon alle Viren mangels Opfern tot aus der Luft und die Epidemie wäre vorbei. In der Praxis aber ist ein solches Verbot unrealistisch. Jeder in seinem Zimmer würde bedeuten: alle verhungern.
Aufgabe der Epidemiologie ist es also, Regeln zu finden, die bei Aufrechterhaltung der lebenserhaltenden Strukturen den Kontakt von Menschen untereinander so weit wie möglich beschränken.
Mit anderen Worten, Epidemiologie ist ein permanentes Herumeiern, oder vornehmer ausgedrückt: „trial and error“. Hier mal was lockern, dann gucken, was passiert; dort mal was verbieten, dann gucken, was passiert; mehr testen, dann gucken, was passiert etc. Qua Epidemiologie sind wir alle zu Teilnehmern an einem gigantischen Laborversuch geworden, dessen Ergebnisse permanent revidiert werden.
Als Teilnehmer an diesem Laborversuch erscheint mir persönlich von allen Anti-Corona-Maßnahmen die Maskenpflicht die wirksamste zu sein. Ich meine damit allerdings nicht ihre unmittelbare medizinische Funktion, die von Beginn an kontrovers diskutiert wurde. Ich meine vielmehr die psychologische Wirkung, die von ihr ausgeht. Schlicht gesagt: Sie vergrößert die Sorge.
Wohin auch immer ich gehe, ich begegne dort Menschen, die einen Großteil ihres Gesichtes verhüllt haben. Praktisch nirgendwo außer in meinen vier Wänden kann ich den Corona-Zustand der Gegenwart ausblenden oder verdrängen. Überall begegnet mir dieses Superzeichen, das die Menschen als Individuen zur Hälfte durchstreicht und sie zu potentiellen Opfern einer allgemeinen Bedrohung verkleidet.
Dieses dauernde Memento wirkt wie der Tropfen, der den Stein höhlt. Es lässt die Bedrohung in meinem Bewusstsein wachsen und zugleich die Sorge. Und nun der m.E. entscheidende Punkt: Die Masken machen, dass ich Dutzende Male am Tag und womöglich eher unbewusst kleine und kleinste Entscheidungen treffe, die allesamt in Richtung Abstand und Vermeidung gehen. Ohne die Masken würde ich viel öfter vergessen, dass ich Distanz wahren und mich an die Hygieneregeln halten soll. Und sehe ich dann noch eine junge Frau neben der Landstraße auf ihrem Fahrrad, weit entfernt von allen Menschen, aber eine Maske vor ihrem Gesicht, so spüre ich ihre Sorge und addiere sie zu der meinen.
Könnte es also sein, dass alle Corona-Maßnahmen im Grunde so funktionieren wie die Maske: als eine grundsätzliche Veränderung unserer Alltagsinstinkte? Ist es zur Reduzierung der Übertragung vielleicht das Wichtigste, dass wir alle die Nähe ein bisschen mehr fliehen und ein bisschen weniger suchen? Bringt die allgemeine Subtraktion von Kontakt und Addition von Distanz für den großen Laborversuch wichtigere Ergebnisse als die Absage von Bundesliga und Oktoberfest?
Möglich. Ich weiß es nicht genau. Ich dilettiere bloß in Epidemiologie, wie es jetzt viele tun. Eine kleine Laborratte denkt über die Maßnahmen der Leute in den weißen Kitteln nach, während sie durch ihr Labyrinth läuft und auf rote Tasten drückt.
Ganz ehrlich: Ich wünschte, es wäre schon ausgestanden und ich dürfte wieder ins Freie.