Der Aasee leidet
August 2018
Für gewöhnlich schreibt man Städten einen Charakter zu. Sie wissen, was ich meine: das fröhliche Köln, das hochnäsige Düsseldorf, das kumpelhafte Dortmund, usw. Münster nun sagt man nach, es sei ein bisschen leidenschaftslos, vorsichtig ausgedrückt.
Ich persönlich bin da sehr skeptisch. Ich fürchte, vieles davon sind angestaubte Vorurteile, die mit der Gegenwart herzlich wenig zu tun haben. Und als ehemaliger Soziologiestudent weiß ich auch, wie unendlich schwierig es ist, etwas so diffuses wie ein Stadtbewusstsein zuverlässig zu bestimmen.
Nun ist allerdings hier in Münster in der jüngeren Vergangenheit einiges passiert, das man, so traurig es auch sein mochte, als eine gelungene wissenschaftliche Versuchsanordnung zur Bestimmung des städtischen Bewusstseins nennen könnte. So erwies sich vor vier Jahren nach einer Überschwemmung durch einen gewaltigen Regenguss, wie viel Solidarität und spontane Nachbarschaftshilfe die Münsteraner leisten können. Und bei einer Amokfahrt mit mehreren Toten im Frühjahr zeigte sich die Münsteraner „Leidenschaftslosigkeit“ von ihrer positiven Seite, nämlich als Diskretion und Respekt vor den Opfern.
Und jetzt ist wieder etwas passiert. In Kürze: Es gibt in Münster einen See am Rande der Innenstadt, der eigentlich kein See ist, sondern eine Art Regulierungsbecken für den kleinen Fluss Aa, der die Stadt früher gelegentlich überschwemmte. Doch aus der Regulierungsmaßnahme wurde eine der beliebtesten und schönsten Parkanlagen in Deutschland. Hier wird gerudert, gesegelt, musiziert, Theater gespielt, gejoggt, gegrillt, hier werden bedeutende Kunstwerke platziert und Heißluftballons gestartet
Allerdings ist der schöne Aasee unlängst wegen der außergewöhnlichen Hitze und Dürre gekippt. Mehrere Tonnen Fische sind erstickt; bäuchlings an der Oberfläche treibend waren sie kein schöner Anblick. Dazu haben sich Dutzende von Schwimmvögeln an dem Wasser vergiftet.
Was nun danach geschehen ist, zeigt eine eher ambivalente Facette des Münsteraner Stadtbewusstseins. Denn es ist nicht bei der begreiflichen Trauer über den Fisch- und Vogeltod geblieben. Nein, fast täglich eingerückte Sonderseiten in der Lokalzeitung belegen, dass Münster höchst angestrengt nach einem Schuldigen für den Vorfall sucht.
Ich spüre dabei so etwas wie einen kollektiven Schock, eine große Enttäuschung. Wie um Himmels Willen, fragt sich die ganze Stadt, konnte das passieren, ausgerechnet hier? Münster ist doch diese anerkannt lebenswerte, menschenfreundliche, ökologische, nachhaltige und achtsame Stadt. Wer also hat es dieser unverschämten Dürre ermöglicht, nicht nur in ganz Europa, sondern auch in Münster zu derart spektakulären Schäden zu führen?
Und nein, nicht Petrus oben im Himmel hat am falschen Wetter-Hebel gezogen, sondern irgendjemand von den hier unten Verantwortlichen hat gepatzt. Irgendeiner, aber wer? Die Münsteraner Stadtgesellschaft könnte man momentan mit der Skulptur einer Menschenmenge darstellen, in der jeder auf den anderen zeigt. Du warst es!, sagen die Leute zueinander. Du hast Gülle ins Wasser geleitet. Du hast die Messwerte falsch gedeutet. Du hast zu viel CO2 produziert, zu viel Plastik konsumiert, zu viel Benzin verbrannt etc. etc. Besonders viele Finger richten sich dabei auf den Umweltdezernenten, einen Politiker der Grünen, und ausgerechnet der muss jetzt dauernd sagen, dass womöglich nicht alles vorhersehbar und nicht alles zu verhindern ist.
Aber genau das wünscht sich jetzt das Münsteraner Stadtbewusstsein. Früher war Münster vom Glauben an Gott beseelt, mittlerweile ist es beseelt vom Glauben an die universelle Abwendbarkeit aller Katastrophen durch eine richtige Politik und Verwaltung, zumindest innerhalb des Stadtgebietes.
Ich bin hier wieder skeptisch. Um Missverständnissen vorzubeugen: Natürlich muss man tun, was getan werden kann. Und was ein Fehler war, sollte auch offen und ehrlich ein Fehler genannt werden. Bei der Überschwemmung vor vier Jahren haben die Münsteraner ihre beste Seite gezeigt, als sie angepackt und geholfen haben. Aber jetzt würde ich sie gerne daran erinnern, dass man die Welt nicht rettet, indem man Schuldige sucht und seinem Nachbarn ein schlechtes Gewissen macht.
Der Glaube an eine vollkommene Beherrschbarkeit der Welt führt ebenso in die Irre wie ein dumpfer Fatalismus. Auch Münster ist keine Insel der Seligen. Nein, wir hängen hier mit dem ganzen Universum aufs engste zusammen. Und sollte einmal eine Eiszeit kommen, wird es auch auf dem Prinzipalmarkt kälter werden.