Corona-Brief Nr. 46
Unter flugleerem Himmel. Aktuelle Gedanken über Reisen und Reiseliteratur von Jürgen Kiel (17. Mai 2021)
Ich leide nicht unter Corona – der Verzicht auf Fitnessstudio und Museumsbesuch ist meines Erachtens kein Leiden. Offen gesagt, für mich hat die Pandemie sogar einen positiven Effekt: So ruhig war es hier noch nie. Am Morgen lärmen zwar die Müllmänner, und über mir vernehme ich Geräusche, die anzeigen, dass dort saniert wird, um einen Quadratmeterpreis von zwanzig Euro zu rechtfertigen. Aber – es gibt keinen Fluglärm mehr! Am Abend ist es so ruhig, wie Städter sich vorstellen, dass es auf dem Lande sei.
Ich lebe in Frankfurt. Am Main natürlich. Frankfurter sagen, dass in ihrer Stadt immer irgendwo ein Flugzeug zu hören, mindestens aber zu sehen sei. Keineswegs sind übrigens vor allem die City-Frankfurter von den Auswirkungen des größten Verkehrsflughafens Deutschlands betroffen. Die Hauptleidenden sind die Bewohner kleinerer Städte im Umkreis. Und dort dürfte jetzt manch einer die Erfahrung machen, wie angenehm es in seinem Garten eigentlich sein könnte. Womöglich verfällt er sogar darauf, die Vorzüge seines Gartens und die der Fernreisen in Beziehung zu setzen.
Ich stehe am Fenster meiner Küche, schaue nach oben in den leeren Himmel und denke über das Reisen nach. Wenn ich über das Reisen nachdenke, denke ich gleichzeitig über mich nach.
Zu Thema „Zukunft nach Corona“ gehört nicht nur der Flugverkehr, sondern der Tourismus insgesamt. Corona setzt das Ausrufezeichen, der Klimawandel das Fragezeichen. Angehende Piloten werden inzwischen darauf hingewiesen, dass sie sich in einer Sackgasse befinden, hingegen werden in der IT und in der Pflege gute Leute benötigt.
Der Flugverkehr zerfällt in Business und Tourismus. Die vorläufig „gerettete“ Lufthansa ist vor allem Business. Die Eitelkeiten von Managern sind die Verbündeten des Luftverkehrs. Zoom ist sein mächtig erstarkter Feind. Ohne den Trip zum Meeting in New York ähneln jetzt viele Manager den einfachen Angestellten, als die sie ihre Chefs immer schon betrachtet haben. Bill Gates ist bereits zum Feind übergelaufen. Folglich denkt die Lufthansa darüber nach, mehr in den Bereich Tourismus zu investieren. Doch da sind schon andere.
Ich denke über das Reisen nach und höre die Kanzlerin sagen, dass im Sommer „Urlaub in Europa“ wahrscheinlich sei. Sie hat nicht von „Tourismus in Europa“ gesprochen, weil sie den Bürgern Mut machen möchte und nicht der Tourismusindustrie, wo tatsächlich viele Menschen leiden. Urlaub ist ein erstrittenes Arbeitnehmerrecht, er dient der Erholung und fördert soziale Kontakte. Urlaub ist gut. Urlaub ist auch im Lockdown nicht verboten, im Gegenteil. Allerdings ist er für viele verdorben, die während ihrer Urlaubstage weiterhin von schweren Problemen betroffen sind oder sich einfach nur Sorgen machen. Urlaub und Tourismus werden heute vielfach als Zwillinge betrachtet, doch das stimmt nicht.
In Coronazeiten zerfallen die Urlauber in zwei Gruppen. Die einen warten ab, wie sich die Lage entwickelt. Für die gewohnten Urlaubsfreuden erscheint ihnen die Lage immer noch zu kompliziert, zu undurchsichtig, zu riskant. Auch ist es in ihrem Garten gerade so schön ruhig. Die anderen kratzen wie junge Hunde an der Haustür, sobald seitens der Regierung ein mit vielen Warnungen versehenes OK erteilt wird, um als erste auf Mallorca zu landen, als ginge es dabei um ihr berufliches Fortkommen. Impfdrängler sind verwerflich, doch ich verstehe, was sie wollen. Mallorcadrängler sind mir unverständlich.
Lange bevor das Reisen als Klimaproblem diskutiert wurde (die französische Nationalversammlung stimmte unlängst für ein allgemeines Verbot von kurzen Inlandsflügen), dachte man über den Zusammenhang von Reisen und Lebenssinn nach. Diese Frage ist auch in Zeiten des Klimawandels nicht unwichtig, da besseres Urlauben nicht allein durch Verbote zu erreichen ist, sondern nur durch einen Mentalitätswandel. Doch wie soll der erfolgen, wenn die jährliche Urlaubsfernreise als zentraler Bestandteil des Lebenssinns betrachtet wird?
Wie bei anderen Aspekten der Klimapolitik streiten sich Anhänger technischer Lösungen mit Verzichtspredigern. Was das Reisen betrifft, interessieren mich am meisten jene, für die der Verzicht kein Verzicht ist. Mich interessieren nicht die radikalen Prediger, sondern die Ungläubigen. Ich bin nämlich auch so einer.
Fernreisen sind Konsumartikel, deren bildliche Beglaubigungen auf der Plattform Instagram, wo jeder zeigen kann, dass er gut und richtig lebt, neben denen der neuen Sitzgarnitur auftauchen. Doch während die Bezeichnung „Erlebnis“ für den Gebrauch einer Sitzgarnitur in den meisten Ohren nach Werbeblabla klingt, ist sie für die Fernreise immer noch verbrieft. Vielleicht ist Bali schon lange nicht mehr authentisch, doch der Bali-Urlaub kann durchaus ein authentisches Erlebnis sein, zum Beispiel wenn man jahrelang sein Geld zusammengekratzt hat, um ein einziges Mal dorthin zu fliegen. Indes fördert Corona Gegentendenzen. „Die Küche ist das neue Mallorca“, sagt die Chefin von Europas größtem Hausgerätehersteller. Das Wort „Erlebnis“ denkt man sich unwillkürlich hinzu.
Den ambitionierten Reiseschriftsteller, der in seinen Büchern das Authentische feiert, berührt dieser Bewusstseinswandel nicht. Er schreibt schließlich keine Reiseführer, sondern erzählt von Reisen, die niemand wiederholen kann oder soll. Er rühmt die Reise als individuelle Erfahrung. Mit Tourismusindustrie und Backpackern spielt er das Hase-und-Igel-Spiel. Er ist der Hase, aber ein glücklicher, sein Weg ist sein Ziel. Nie würde er den Namen Goethes nennen, aber man weiß Bescheid. Vor einiger Zeit hörte ich im Deutschlandfunk, wie so ein Priester des Reiseerlebnisses mit einem ökologisch argumentierenden Reisekritiker diskutierte. Der Reiseschriftsteller gab zu, dass der Reisekritiker gute Argumente habe, berief sich jedoch auf seinen ungebrochenen Glauben an das Authentische der Reiseerfahrung. Ich sage: Dieser Glaube ist das eigentliche Erlebnis. Und über Glauben kann man nicht streiten.
Wie gesagt, ich gehöre zu den Ungläubigen.
Ich stelle mir vor, wie der Reiseschriftsteller aus seiner nächsten, hoch individualistischen Reise ein nettes Buch macht. Und dann stelle ich mir einen dünnen Mann vor, der in einem Touristenhotel auf Mallorca am Frühstückbuffet steht. Der dünne Mann ist Kafka: Er brauchte einen Tapetenwechsel.
Woran ich glaube: Das Erlebnis ist immer dort, wo man es nicht sucht.
Seit Jahrzehnten setzt sich die Tourismusforschung mit Hans Magnus Enzensbergers Essay zum Tourismus auseinander (Merkur 126, 1958; im Netz), in dem er die gebildeten Tourismusverächter tadelte und anschließend den Tourismus als Industrie analysierte, noch bevor der Massentourismus in den 1960ern so richtig losbrummte. Enzensbergers These war: Tourismus ist Flucht. Dies wurde ihm als einseitig vorgeworfen, doch der Stachel im Fleisch der Tourismusleute sitzt tief, sonst würden sie den Essay nicht immer wieder zitieren.
Indes hatte Goethes „Italienische Reise“, triumphaler Höhepunkt der Periode der Grand Tour und das unerreichte Vorbild jedes Reiseschriftstellers, ebenfalls Kennzeichen einer Flucht. Heute würde man sagen: Ein überarbeiteter Künstler, Politiker und Manager verschaffte sich ein längere Auszeit, um zu sich selbst finden und wieder kreativ werden zu können. Schnoddrige Version: Goethe brauchte Tapetenwechsel. Es war natürlich mehr. Es ging ums Ganze. „Wieviel Fälle sind nicht möglich, da sich das Gesicht unsrer Existenz ins Beßre verändern kann“, schreibt er kurz vor seine Abreise hoffnungsvoll an Herder. Der Bildungsbürger legt die „Italienische Reise“ zur Seite und denkt: Das geht heute alles nicht mehr. Außerdem bin ich nicht Goethe. Doch das verlängerte Wochenende in Rom, das muss sein. Ich brauche Tapetenwechsel.
Ich bin dieser Bildungsbürger.
Das Problem, das ich mit Fernreisen habe, kondensiert im Titel eines, wie es heißt, „Reiseführers mit Kultfaktor“. Er lautet: „1000 Places To See Before You Die.” Das klingt verdammt existenziell. Ich habe nichts gegen diesen Reiseführer, er enthält gewiss manch interessante Anregung. Ich glaube nur nicht an die Ideologie, die sein Titel transportiert. Und eine Stimme in mir sagt: lieber nicht.
Ein anderer Reiseführer hat einen sympathischeren Titel: „111 Kölner Orte, die man gesehen haben muss“. Selbstverständlich ist Köln nur ein Beispiel. Das unauffällige Büchlein wird zur Quelle der Romantik, sobald es von einem Kölner gekauft wird. Dieser Kölner sagt zu seiner Frau: „Höre, Frau, aufgrund von Corona fällt zwar in diesem Jahr unser Bali-Urlaub aus, aber in Köln wird von Woche zu Woche immer mehr geöffnet. Wir verbringen unseren Urlaub in Köln. Einzige Bedingung: Wir lassen den Dom aus.“ Und dann fällt ihm seine Frau um den Hals, weil sie die tiefe Wahrheit darin erkannt hat. Und im nächsten Jahr verbringen sie ihren Urlaub in der Kölner Südstadt. Und im übernächsten bleiben sie ganz zu Hause.
Die literarischen Antipoden des Reiseschriftstellers treten als Avantgardisten der Gegen-Reise auf die Bühne. Der französische Schriftsteller Xavier de Maistre schrieb, als er 1790 nach einem Duell zu sechs Wochen Hausarrest in seiner kleinen Turiner Dachgeschosswohnung verurteilt worden war, sein Buch „Voyage autour de ma chambre“ („Reise um mein Zimmer“). Er reist von seinem Sessel zu seinem Bett, vom Bett zum Schreibtisch und wieder zurück. Er lässt seiner Phantasie freien Lauf, betrachtet die Stiche und Gemälde in seiner Wohnung und macht Entdeckungen in seiner Bibliothek. Bis in unsere Zeit sind nach diesem Vorbild weitere Zimmerreisebücher erschienen. Je mehr Phantasie einer hat, desto weniger benötigt er Anregung von außen. Doch ein wenig Anregung ist immer gut, jeder muss herausfinden, wie viel er braucht. Diese Wahrheit den Vielreisenden so direkt mitzuteilen, wäre aber unhöflich.
Meine liebste Gegen-Reise hat der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar, der in Paris lebte, gemeinsam mit seiner zweiten Frau Carol Dunlop unternommen. Die Regel der Reise lautete: Wir fahren mit unserem VW-Bus auf der Autobahn von Paris nach Marseille und halten auf jedem Rastplatz, auch auf den grässlichsten. Runter von der Autobahn ist verboten. Freunde organisierten die Verpflegung. Was ist dagegen Bali? Im Sommer 1982 fuhren sie los. Die Reise dauerte einen Monat, 65 Rastplätze und ergab auch ein Buch: „Die Autonauten auf der Kosmobahn“. Es war ihre letzte Reise, schon vor deren Beginn wussten beide, dass sie unheilbar krank waren. Carol Dunlop starb Ende des Jahres, Julio Cortázar ein Jahr später.
Es ist Abend geworden. Ich stehe, „Die Autonauten“ in der Hand, in meiner Küche und öffne das Fenster. Es ist ruhig draußen. Ich blicke zum Himmel und suche das Sternbild des Fahrrads. Unten fährt ein Mann auf einem Roller vorbei. Es bleibt ruhig. Der Roller ist ein E-Roller.
Ich schalte das Radiogerät ein. Im Sommer geht es wieder los, verkündet der Fraport-Chef.
(Jürgen Kiel, geboren 1955 in Ratingen, studierte Germanistik, bevor er Anfang der 80er Jahre in die IT-Branche wechselte. Zuletzt war er selbständiger Entwickler von Lern- und Kommunikationsprogrammen.)