Corona-Brief Nr. 45
Nach dem Dornröschenschlaf (9. Mai 2021)
Ich treffe (natürlich unter Corona-Bedingungen) Fritz Jaeckel, den Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen.
BS: Herr Jaeckel, jeden Tag höre ich in den Medien die Klagen von Menschen aus den verschiedensten Berufen, die durch die Corona-Pandemie schwere bis schwerste Einbußen erleiden. Aber kurz vor Acht erfahre ich dann in der Börsensendung der ARD, dass die Aktienindices einschließlich unseres DAX eine muntere Gipfeltour unternehmen. Da frage ich mich regelmäßig: Wie sieht es denn eigentlich in unserer Wirtschaft aus? Kann ich mir so etwas wie ein einigermaßen deutliches Bild aus der Vogelperspektive machen, oder sehe ich auch von dort oben nur ein nicht differenzierteres Gewusel von ökonomischen Einzelschicksalen?
FJ: Ich verstehe Ihre Verunsicherung. Die Lage ist tatsächlich alles andere als übersichtlich. Aber uns hilft da eine Studie des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim, die jüngst erschienen ist. Danach gibt es im vergangenen ersten Pandemie-Jahr einen deutlichen Rückstau der Insolvenzen, insbesondere bei mittleren und kleineren Unternehmen.
BS: Das bedeutet?
FJ: Wir haben in diesem Zeitraum etwa ein Fünftel weniger Unternehmenspleiten zu verzeichnen als in der Zeit davor.
BS: Im Ernst? Heißt es nicht dauernd, dass von der Gastronomie übers Handwerk bis hin zum Dienstleistungsgewerbe etliche Unternehmen durch den Verdienstausfall in die Knie gezwungen werden? Und jetzt gibt es sogar weniger Pleiten als sonst?
FJ: Die ökonomischen Einbußen sind in der Tat gewaltig. Aber die staatlichen Hilfsmaßnahmen und Unterstützungen versetzen viele Unternehmen momentan in einen Dornröschenschlaf. Und tatsächlich werden damit auch Unternehmen am Leben erhalten, die selbst unter ganz normalen Umständen hätten aufgeben müssen, wie das – traurigerweise – in einer freien Marktwirtschaft an der Tagesordnung ist.
BS: Wie stelle ich mir das vor?
FJ: Ganz leicht. Denken Sie sich zum Beispiel einen Dienstleister im Event- und Messebereich. Er ist in den letzten Jahren ein bisschen überaltert, sowohl was das Personal als auch was die Performance angeht. Jetzt sind durch Corona alle Messen abgesagt worden. Aber das Unternehmen erhält einen Ausgleich für seinen Verdienstausfall, eine Mitarbeiterin geht in Kurzarbeit, eine Aushilfskraft sucht sich einen anderen Job, und der Vermieter der Werkstatt verzichtet auf einen Teil seiner Miete, weil im Falle einer Kündigung der Raum doch nur leer stehen würde. Auf diese Art und Weise kommt der Dienstleister erst einmal über die Runden; und wenn er vor einem Jahr vielleicht über eine Geschäftsaufgabe nachgedacht hat, so tut er es gerade jetzt eben nicht. Es geht ihm womöglich sogar mit Corona besser als ohne.
BS: Aber Corona wird ja – hoffentlich – auch einmal enden. Endet damit auch der Dornröschenschlaf?
FJ: Richtig. Und es wird natürlich vielfach ein böses Erwachen sein. Denn in dem Jahr, in dem das Unternehmen geschlafen hat, hat sich in seinem Umfeld der Markt verändert, und womöglich sogar dramatisch. Ich muss nicht aufzählen, was sich allein durch die Digitalisierung in den letzten Jahren an unserem Konsumverhalten verändert hat; und im Corona-Jahr haben sich diese Veränderungen ungeheuer intensiviert. Vermutlich wird die Zahl der traditionellen analogen Veranstaltungen auch nach Corona stark zurückgehen. Das heißt, unser Dienstleister wird seine Kunden und Aufträge nicht zurückbekommen wie einen Koffer, den man bei der Gepäckaufbewahrung eingestellt hat.
BS: Also macht er erst im nächsten Jahr Pleite, wenn neben den Kunden auch die staatlichen Unterstützungen wegbleiben?
JF: Das wird passieren, und zwar in leider signifikanter Zahl. Die Forscher in Mannheim rechnen mit einem starken Zuwachs der Insolvenzen nach der Pandemie. Aber das ist kein unausweichliches Schicksal. Nehmen wir wieder unseren Dienstleister. Für ihn gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ergibt er sich in sein Schicksal, löst sein Unternehmen auf und sucht sich einen neuen Job. Oder er nutzt die Corona Zeit, um nicht wie Dornröschen zu schlafen, sondern um aktiv und konstruktiv über die Zukunft seines Unternehmens nachzudenken. Ich fantasiere einmal: Er stellt sein Unternehmen auf die Ausrichtung virtueller Veranstaltungen um. Er baut variable Stände, in denen die Unternehmen ihre Produkte präsentieren, und zusammen mit Fachleuten für digitale Präsentationen inszeniert er Messeauftritte, die sich interessierte Kunden zu Hause auf Ihrem PC oder unterwegs auf ihrem Smartphone ansehen können. Ist er mit einem solchen Angebot rechtzeitig am Markt, kann ihm womöglich eine Metamorphose seines Unternehmens gelingen, die ihm ohne den Umstellungsdruck der Pandemie gar nicht in den Sinn gekommen wäre.
BS: Sie glauben an solche Metamorphosen?
JK: Ich glaube an unsere Marktwirtschaft. Auch wenn das banal klingt: Unternehmer und Unternehmerinnen sind Menschen, die etwas unternehmen, die sich etwas ausdenken und für die Realisierung ihrer Vorstellungen auch ins Risiko gehen. Alles, was wir jetzt für selbstverständlich nehmen, ist einmal erfunden worden, war neu und überraschend. Ich lebe in der guten Hoffnung, dass der Veränderungsdruck der Pandemie auf breiter Fläche zu einer Intensivierung von Innovationen führt.
BS: Aber nicht alle können oder wollen selbstbestimmt und dynamisch agieren!
FJ: Das stimmt. So ist zum Beispiel die Zahl der kleinen und mittleren inhabergeführten Unternehmen groß, in denen es Probleme mit der Übernahme gibt. Die Nachkommen sind heute oftmals nicht gewillt, das Geschäft oder den Betrieb ihrer Eltern zu übernehmen. Sie interessieren sich nicht für dessen Gegenstand, oder sie scheuen das Risiko. Oder es gibt sie einfach nicht. Unter dem Einfluss der Pandemie kommt es jetzt nachgewiesenermaßen zu einer größeren Bereitschaft von Inhaberinnen und Inhabern im fortgeschrittenen Alter, ihre Unternehmen aufzulösen. Unsere IHK hat deswegen eine Initiative gestartet, Nachfolger zu finden, die dann womöglich mit größerer Innovationsbereitschaft ein solches Unternehmen übernehmen, als es Nachfolger aus der Familie getan hätten.
BS: Aber was ist mit den Angestellten?
FJ: Auch hier verfolgen wir gewisse Tendenzen. Da sind zum Beispiel die Menschen am Ende ihrer Fünfziger oder am Anfang ihrer Sechziger Jahre, die mit staatlicher Unterstützung in Kurzarbeit geschickt worden sind. Sie alle machen quasi einen wochen- oder monatelangen Erfahrungsaufenthalt im vorgezogenen Pensionärsdasein. Das mag vielen widerstreben, aber längst nicht allen. Ich prognostiziere, dass etliche nach der Pandemie nicht ins Berufsleben zurückkehren. Vielleicht kommen sie mit einer reduzierten Rente über die Runden, vielleicht finden Sie andere ehrenamtliche Betätigungsfelder, vielleicht führen sie schon ein paar Jahre früher das Leben, für das sie in den Jahren einer guten wirtschaftlichen Entwicklung haben vorsorgen können. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir seit etwa 2009 ein permanentes Wirtschaftshoch erlebt haben, an dem viele Menschen partizipieren konnten.
BS: Und die jüngeren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?
JK: Die sind im Arbeitsmarkt durchweg anders sozialisiert als ihre Eltern und Großeltern. Als vor fünfzig Jahren im Ruhrgebiet die Zechen geschlossen wurden, sagten Bergleute um die Vierzig, jetzt sei ihr Leben als arbeitender Mensch zu Ende. Damit hatten sie auch teilweise Recht. Das ist inzwischen ganz anders geworden. Die meisten Berufstätigen kennen ihren Wert und sind gut über die Personallage in ihrer Branche informiert. Uns erreichen jetzt die Klagen von Unternehmen, bei denen Beschäftigte ohne unmittelbaren ökonomischen Zwang kündigen, um sich zu verändern. Es gibt wohl auch etliche 450-Euro-Kräfte, die in eine Vollzeit-Festanstellung wechseln. Der Veränderungsdruck, der jetzt pandemiebedingt auf den Unternehmen lastet, lastet auch auf den Beschäftigten, und er kann hier wie dort Fatalismus und Verzweiflung ebenso wie Kreativität und Aktionsbereitschaft auslösen. In den Jahren vor Corona hat sich die Zahl der Arbeitsplätze stark erhöht, im Bereich der IHK Nord Westfalen waren es seit 2005 immerhin etwa 220.000. Eine solche Entwicklung ist nur möglich in einem Klima der Innovation und der Unternehmungsbereitschaft. Ich glaube nicht, dass diese Grundvoraussetzungen durch die Pandemie zerstört werden, wenngleich die Zahl der Probleme und der widrigen Umstände natürlich deutlich wächst.
BS: Gehen wir einmal davon aus, dass der von Ihnen entworfene Dienstleister bereits in diesem Herbst mit den ersten Produkten seines neuen Geschäftsmodells sichtbar wird und im Handumdrehen genug Kunden für das nächste Geschäftsjahr hat. Meinen Glückwunsch dazu! Aber ich nehme an, dass es neben ihm auch noch andere Unternehmen gibt, die ohne besonders viel zu tun durch die coronabedingten Verlagerungen am Markt profitiert haben. Sprechen Sie gelegentlich mit Verantwortlichen aus diesen Unternehmen?
JK: Natürlich. Und ich bekomme immer wieder Anfragen von der Presse, um Kontakte dorthin zu vermitteln. Ich stelle aber eine allgemeine Zurückhaltung fest, in der Öffentlichkeit zu sagen, dass man von den momentanen Entwicklungen profitiert hat. Die Gründe dafür kann man verstehen, wer will schon als Pandemiegewinnler dastehen. Allerdings sind dadurch all diejenigen in der Berichterstattung unterrepräsentiert, die momentan ökonomische Erfolge genießen dürfen. Es liegt mir fern, die Probleme der anderen Betriebe und Beschäftigten schmälern zu wollen, aber die gesamtwirtschaftliche Entwicklung ist differenzierter. Der momentan extrem verschärfte Veränderungs- und Innovationsdruck produziert neben Verlierern auch Gewinner. Ein weiterer Katalysator bei diesem Prozess ist der Umstand, dass die Kapitalzinsen praktisch nicht mehr existieren und es überhaupt keinen Sinn mehr macht, Gewinne im klassischen Sinne anzulegen.
BS: O je! Hier gerate ich wohl wieder an die Grenze meines ökonomischen Verständnisses.
JK: Auch das ist erklärbar. Wenn ich für mein Geld bei der Bank keine Zinsen mehr bekomme, muss ich damit etwas anderes tun. Wir bemerken zum Beispiel eine anwachsende Aktivität auf dem Immobilienmarkt. Wo demnächst womöglich Geschäfte leer stehen werden, melden sich nicht neue Mietinteressenten, sondern Interessenten für die Immobilie. Sie kaufen sich in gute und zukunftsträchtige Lagen ein, ohne selbst Geschäftsmodelle zu entwickeln, sondern um an erfolgreichen Geschäftsmodellen anderer zu partizipieren.
BS: Herr Jaeckel, Sie klingen im Ganzen recht zuversichtlich.
JK: Herr Spinnen, ich habe den ganzen Tag mit Problemen zu tun, zum Teil mit den allerschwersten. Aber ich habe auch Zuversicht. Sie rührt aus der Erfahrung und aus der Einschätzung unserer ökonomischen Ordnung. Die war in den letzten Jahrzehnten so erfolgreich, weil sie auf der Kreativität vieler individueller Frauen und Männer beruhte. Corona ist – wenn ich das einmal so sagen darf – eine globale Schweinerei –, aber es ist auch eines der strukturellen Probleme, wie sie einem ökonomischen System immer begegnen können, und niemand ist darauf besser vorbereitet als eine Marktwirtschaft mit einer gut ausgebildeten und selbstbewussten Arbeitnehmerschaft.
BS: Ich danke Ihnen für das Gespräch.
(Fritz Jaeckel, geboren 1963 in Flensburg, ist promovierter Jurist. Nach einer Zeit als wissenschaftlicher Assistent führte ihn seine Laufbahn 2014 in das Amt des Chefs der Staatskanzlei und Staatministers für Bundes- und Europaangelegenheiten im Freistaat Sachsen. Seit Mai 2018 ist er Hauptgeschäftsführer der IHK Nord Westfalen.)