Corona-Brief Nr. 18
Schreiben unter Corona (16.8.2020)
Brötchenholen am Sonntagmorgen Die Kunden stehen in einer Schlange, die über den Bürgersteig bis zum Nachbarhaus reicht, und sie halten großzügigen Abstand. Die Bäckerei ist umgebaut; man geht wie gewohnt hinein, aber hinaus geht es durch den kleinen Wintergarten, der zuvor als Miniaturbistro gedient hat. Über der Theke sind Plexiglasschilde mit schmalen Durchreichen hochgezogen. Am Boden markieren rote Klebestreifen, inzwischen schon ziemlich abgeschabt, wie man sich zu bewegen und wo genau man zu stehen hat. Die Bäckereiverkäuferinnen tragen Plexiglasvisiere, die Kunden samt und sonders Mund- und Nasenschutz in verschiedenen Varianten.
Ein Bäckereibesuch im Sommer 2020. Ein kleines Beispiel für die Masse der Veränderungen, die über unseren Alltag gekommen sind. Die Pandemie ist omnipräsent, kaum ein Lebensbereich, der nicht betroffen ist. Im Mai durfte ich meine Frau eine Woche lang nicht im Krankenhaus besuchen. Stattdessen spielten wir die Balkonszene aus „Romeo und Julia“ in einer leicht absurden Variante nach, meine Frau am Fenster im sechsten Stock des Krankenhauses, ich selbst inmitten einer Baustelle davor, beide unsere Smartphones ans Ohr gedrückt.
Mittlerweile machen wir wieder unsere täglichen Spaziergänge mit den Hunden. Wenn uns andere Hundehalter begegnen, stupsen die Tiere wie üblich einander die Schnauzen zwischen die Beine, während wir Menschen uns an den jeweiligen Rand des Spazierweges drücken und über die distanzlosen Hunde hinweg etwas distanzierte Konversation machen.
Um acht Uhr abends treffen sich meine Frau und ich vor dem Fernseher. Es hat etwas vom täglichen Gottesdienst; schließlich geht es nicht nur um Fakten und Zahlen, sondern auch um Glaubensbekundungen und um die Erfahrung, dass wir uns in einer Gemeinschaft von Gleichen befinden. Wir sind zwar nicht vor Gott gleich, jedenfalls ist davon nicht die Rede, aber dafür gibt es immer eine Fülle neuer Beweise dafür, dass und wie wir alle von den Folgen der Pandemie betroffen sind. Und stets wird unser aller gemeinsame Hoffnung artikuliert, die Hoffnung auf die aktuelle Form der Erlösung, mag sie „Lockerung“ oder, in ihrer höchsten Stufe, „Impfstoff“ heißen.
Mit all dem erzähle ich niemandem etwas Neues. Aber ich brauche diese wenig originelle Ouvertüre, um eine spezielle Frage vorzubereiten, die mich seit Monaten bewegt. Im Januar habe ich einen Roman zu schreiben begonnen, dessen Thema mir schon seit einiger Zeit durch den Kopf geht. Hauptfigur soll ein Mann Anfang sechzig sein, dessen Berufsleben (erfolgreich, aber unspektakulär) zu Ende geht und der nicht weiß, wie er den letzten Abschnitt seines Lebens gestalten soll. Er fühlt sich immer noch so, wie er sich mit dreißig gefühlt hat; mit Vorstellungen wie „Reife“, „Erfahrung“, „Gelassenheit des Alters“ etc. kann er nichts anfangen. Ihm fehlt das Konzept, das Bild für die kommenden Jahre. Geradezu kopflos stolpert er in seine sechziger Jahre, so wie er mit vierzehn ins Erwachsensein gestolpert ist. Nur fehlt ihm jetzt, was ihn damals tröstete, als mit vierzehn oder mit dreißig der Horizont des Lebens noch nicht im Blick und nur der Himmel die Grenze war. Damals half die Vorstellung von der eigenen Unsterblichkeit über die Verwirrung; jetzt trübt die Gewissheit der Sterblichkeit zusätzlich die Gegenwart.
Ich begann die Arbeit am Text mit einigem Schwung. Doch dann wurde es problematisch. Ich hatte die Handlung in keiner bestimmten Zeit angesiedelt, der Roman sollte in einer nicht genauer bestimmten Gegenwart spielen. Ich wollte, wenn ich das so sagen darf, ein sozialpsychologisches Phänomen schildern, und dazu brauchte es keine dominante Tagesaktualität. Dann kam Corona. Am Freitag, den 13. März wurde der allgemeine Lockdown angekündigt, kurz darauf trat er in Kraft. Das öffentliche Leben wurde umgebaut, auf den Zustand, den ich oben beschrieben habe und den wir alle mittlerweile zur Genüge kennen.
Und prompt stellte sich mir die Frage: Was bedeutet das für meinen Roman? Was kann, was soll, was muss ich jetzt tun, wenn ich weiter daran schreiben will?
Ich sah drei Möglichkeiten. Erstens: Ich siedele den Text ausdrücklich in der Vor-Corona-Zeit an. Das würde mich jeder Rücksicht auf die dramatische Veränderung der Zeitläufte entheben. Doch ich wusste: Dabei würde ich mir vorkommen, als betriebe ich Drückebergerei. Mehr noch, als würde ich ein Phänomen, das wie kaum ein anderes zuvor in den letzten Jahrzehnten alle Menschen existenziell betrifft, aus meiner Darstellung ausklammern und sie damit unvollständig, ja defizient machen.
Zweitens: Ich lasse den Roman 2022 oder 2023 spielen, das heißt: nach Entdeckung und Verbreitung eines Impfstoffes. Damit hätte ich die Freiheit, eine womöglich in wesentlichen Teilen veränderte Gesellschaft zu schildern, doch würde ich damit (nach meinem Empfinden) zumindest teilweise ins Genre der Science-Fiction wechseln, in dem ich mich wahrscheinlich sehr unwohl fühlen könnte. Ich sah mich beim Schreiben schon von der dauernden Sorge verfolgt, ob meine Konstruktion einer Nach-Corona-Gesellschaft der Wirklichkeit würde standhalten können. Womöglich würde ich so bei der Sorge um die „passenden“ Umstände meine Hauptfigur verlieren.
Möglichkeit Nummer drei lautete: Ich lasse den Roman exakt jetzt spielen. Ich stülpe meiner Figur nicht nur ihre individuelle Lebenskrise, sondern auch die durch Corona hervorgerufene allgemeine Welt- und Bewusstseinskrise über den Kopf. Das hieße natürlich auch: Ich nehme billigend in Kauf, meinen Text zumindest partiell von der Pandemie regieren zu lassen, von ihren Launen, ihren Wendungen und ihren Katastrophen.
Diese Frage hat mich sehr umgetrieben. Die letzten fünfundsiebzig Jahre haben für uns Deutsche mit Ausnahme des Zusammenbruchs der DDR 1989/90 wohl keinen dermaßen tiefen Einschnitt in die Alltagsroutinen gebracht. Unsere zeitgenössische Literatur konnte wesentlich leichter in einem „Irgendwann“ spielen, sich leichter von den politischen und sozialen Umständen freimachen oder fernhalten, als sie das in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konnte, als Krieg und Gewaltherrschaft alles bestimmten. Jetzt aber ist eine Zeit heraufgezogen, in denen Menschen sich nicht einmal die Hand geben dürfen. Jobs gehen zum Teufel, vielgeliebte Selbstverständlichkeiten wie Fernreise und Verbrennungsmotor geraten auf den Index – und wie verliebt man sich eigentlich unter bzw. nach Corona? Noch einmal: Wie kann, soll, muss ich mich als Romanautor dazu verhalten?
Sie werden sich wahrscheinlich denken können, welche Entscheidung ich getroffen habe.